28.01.24 Auch im vergangenen Jahr schrieben die Mitglieder der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek einen Roman zusammen. Und wie schon im vergangenen Jahr wird es hier an dieser Stelle jeden Sonntag daraus eine Fortsetzungsfolge geben. Heute zu lesen von Klaudia Szatmari das zweite Kapitel GEHENNA::
Zweites Kapitel
- Dies profectionis Vanth
Dienstag. Es ist kalt. Dunkel. Das Los der Zuteilung auf die Erkundung vom Land Gehenna kam wie gerufen. Mein ganzes, erbärmliches Leben schien nun endlich einen Sinn zu ergeben.
Man sagte mir, meine Visionen könnten mir auf der Reise helfen.
Nun, eine allzu große Hilfe waren sie mir bis jetzt leider nicht.
Sie konnten mir nur den Weg aus der Stadt zeigen, aber sobald ich mit dem Pferd auf das Land gekommen war, schien meine Orientierung immer schlechter zu werden.
Die Karte des Rates war mir leider auch keine große Hilfe, da Gehenna zu einem der unbekanntesten und gefürchtetsten Länder zählte.
Keiner wusste, was passierte, wenn man die östliche Landesgrenze erreichen würde. Manche dachten, man würde vom Tod höchstpersönlich geholt werden.
Andere berichteten, dass ihre Haut sich verätzte oder sie durch den bloßen Wind gehäutet würden.
Alles äußerst angenehme Einladungen, muss ich sagen. Sehr viel schönere Tode, als die, die mir im Keller der Kirchen versprochen wurden.
Illustration: Isabell Geger
.
Nun aber, was ich von meiner Reise berichten kann: Je mehr ich östlich ritt, konnte ich
durch die ansteigende Kälte und Dunkelheit wahrlich bestätigen, dass ich mich auf der
richtigen Route befand. Manchmal stieg dunkelgrauer Nebel auf, der, je weiter wir uns von
Volkesland entfernten, durch rote und dunkelblaue Farb-Akzente intensiver wurde. Dieser
Nebel war gepaart mit dem Geruch von Eisen und leichter Verwesung. Ein süßer Duft.
Nachdem die Grenze erreicht wurde, schien sich das Tageslicht einer vollständigen Dun-
kelheit ergeben zu haben. Leider muss ich berichten, dass mir meine Haut nicht von meinen
Knochen fiel oder Satan vor mir erschien.
Nach einem langen Ritt durch dichte Wälder schien der Nebel die weiterführende
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Umgebung so sehr einzunehmen, dass man nur noch einen dunkelblau-lila Himmel mit
roten Wolken vernahm, der sich durch die Farbe des Nebels mit der des Himmels vermischte.
Ansonsten konnte ich durch die gesichteten fledermausartigen Kreaturen, von denen wir
informiert wurden, erkennen, dass ich im Lande Gehenna war.
Je weiter ich in die Tiefe des Landes eindrang, desto mehr nahmen die Kälte und der
Geruch von Verwesung und Fleisch zu. Die Erde war trocken mit schwarzer Erde und die
Luft wurde scheinbar immer dicker. Weit und breit schien es keinerlei Zivilisation zu geben,
doch am Horizont war allmählich die Spitze eines Turms zu erkennen.
Narthia. Das Schloss aus den Legenden.
Weitere Berichte werden folgen, sobald der Wald durchquert und etwas Erwähnenswertes
gesichtet wurde.
Mein Kopf brummte und meine Sicht war wie von einem dicken Nebel umgeben.
Ich wusste gar nicht, wo ich war, denn mein Körper fühlte sich wie betäubt an. Mein
Kopf war ebenfalls viel zu schwer, um ihn zu heben. Einen Versuch, meine Augen
zu öffnen, wagte ich erst gar nicht. Trotz meines kläglichen, bereits im Vorhinein
aussichtlos erscheinenden Zustandes, probierte ich dennoch mich zu erheben –
keine Chance, ich war wie gelähmt. In dem Moment, in dem ich meine Augenlieder
öffnen wollte, durchzog meinen Kopf ein stechender Schmerz, der mir das Gefühl
gab, als würde mein Schädel aufgebrochen werden. Entkräftet ließ ich meinen Kopf
wieder auf den harten Untergrund sinken und gab mich der wohligen Dunkelheit
hin.
- Visus in scopum
Vanth
Ich habe aufgehört, die Tage zu zählen, die bereits vergangen sind, seitdem ich zu meiner
Reise aufgebrochen bin. Ich verfügte über nicht mehr allzu viel Nahrung, was bedeutete, dass
ich entweder mein Ziel demnächst erreichen, mich auf die Jagd begeben oder mich mit dem
Hungertod als mein vermeintliches Ende auseinandersetzen müsste. Angesichts dieser Tatsa-
chen würde die letzte Möglichkeit immerhin etwas mehr Aufregung in diese öde, ereignislose
Reise bringen.
Dachte ich zumindest.
Vier Nächte, nachdem ich den ersten Bericht entsandt hatte, vernahm ich etwas Eigenar-
tiges. Ich sichtete nun vermehrt die Kreaturen, welche der Grund waren, weshalb wir auf die
Erkundung geschickt wurden. Dies müsste bedeuten, dass ich nun den Großteil des Waldes
durchquert hatte und bald an seiner Grenze ankommen sollte. Nachdem ich eine recht unru-
hige Nacht hinter mir hatte, geplagt vom Krächzten der fledermausartigen Kreaturen, stieß
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ich auf ein regungsloses Exemplar. Ich stieg von meinem Pferd ab und versuchte es genauer
zu betrachten.
Es war ungefähr so groß wie ein Luchs, lange dünne Beine und Arme und seine graue,
bläuliche Haut klebte förmlich an seinem Skelett. Seine Flügel waren gebrochen, dies reichte
jedoch aus, um eine mögliche Spannweite von ungefähr zwei Metern zu erkennen. Die Haut
dort wirkte fast schon ledrig, die Spitzen der Flügel, welche denen eines Drachen glichen,
hatten kleine, graue Hörner. Das war jedoch nicht der Teil, der mich am meisten verstörte.
Am angsteinflößendsten war das Gesicht, welches einer Ratte ähnelte. Ich starrte auf einen
großen, schmalen Kiefer und spitze Zähne, die krumm angeordnet waren. Die Zunge war
violett und hatte eine gespaltene Spitze, die halb aus dem Maul der Kreatur ragte. Der Kopf
war gekrönt von zwei kleinen Ohren, welche durch ihre Dicke und Größe fast schon wie
Hörner wirkten. Das Tier war hässlich und schön zugleich. Ich war wie hypnotisiert, als wäre
es unmöglich, meine Augen von dem Anblick zu meinen Füßen abzuwenden. Es stank nach
Verwesung und füllte meine Lunge beim Einatmen mit einer so dicken Luft, dass ich dachte,
ich würde ersticken. Ich zog meinen Mantel vor mein Gesicht und versuchte, eine Probe von
seinem Speichel und seiner Haut zu entnehmen. Doch nachdem ich das Messer an seine Haut
führte, fing das Metall an, sich in flüssiges Eisen zu verwandeln. Nun, dann also keine Probe.
Ich zögerte kurz und schaute mich nach möglichen Freunden unseres toten Exemplars um,
welche mich jede Minute aufspüren könnten. Sie mussten seine Leiche aus meterweiter Ent-
fernung riechen können. Die langen Schlitze, die wahrscheinlich sein Riechorgan darstellten,
klafften aus seinem Kopf, was mich zu dem Schluss kommen ließ, dass diese Kreaturen einen
gut ausgeprägten Geruchssinn besitzen mussten.
Sollte ich es wagen? Ich musste erfahren, weshalb sie ausgebrochen waren. Und wenn mir
meine Visionen bis jetzt nichts gebracht haen, könnten sie mir vielleicht jetzt behilflich sein.
Langsam zog ich meinen schwarzen Handschuh aus und legte meine Hand auf den kno-
chigen Rücken des Tiers. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, schoss mein Kopf reflex-
artig nach hinten. Starr waren meine Augen auf den trüben Himmel gerichtet. Meine Hände
verkrampften sich. Mir wurde schwindelig und ich konnte noch fühlen, wie meine Augen sich
verdrehten. Dann wurde es dunkel.
Ich blinzelte. Mich durchzog eine Eiseskälte und roter Nebel trübte meine Sicht. Ich befand
mich vor dem Schloss. In der Luft? Ich war in eine der letzten Erinnerungen des Tieres
geschlüpft und schaute in ein Zimmer, in dem ein Mann auf einem Bett saß und etwas
betrachtete. Ich konnte nur den Rücken des Mannes sehen, aber er wirkte in sich gekehrt, fast
schon nachdenklich – irgendwas sagte mir, dass noch mehr in seinem Gesicht zu lesen sein
musste. War er vielleicht gekränkt? Er trug eine lila Weste mit goldenen Verzierungen und
darunter ein weißes Hemd. Seine dunklen, aschigen Haare lagen auf seinen breiten Schultern
auf.
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Ich fühlte Schmerz, Hass, Wut, das Bedürfnis nach Vergeltung. Unkontrollierte Emo-
tionen durchquollen meinen Geist. Doch als ich nach mehr suchen wollte, drehte sich der
Mann langsam zu mir um.
Das letzte, was ich sah, war ein blutrotes Auge und ein Gesicht, welches sich mit einer
Narbe auf der linken Gesichtshälfte zu einem zynischen Grinsen verzog. Erst jetzt sah ich
den Dolch, den er in seiner Hand hielt. Ein eindringlicher Blick fokussierte mich. Dann
wurde es schwarz. Als mich der Schwindel wieder klarsehen ließ, musste ich abrupt nach
Luft schnappen.
Wen oder was hatte ich da gesehen? War er es gewesen? Warum quälten ihn in dem
Moment solche Emotionen?
Ich hob meinen Kopf und blickte Richtung Horizont. Ich befand mich am unteren Graben
des Schlosses, welches mich mit seinem roten Nebel fast schon zu sich rief. In sich hinein, nach
dem Mann suchend, bei dem ich wusste, dass er der Grund für meine Reise hierher war: Lord
Levithan.
Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, seitdem ich das erste Mal erwacht
war, doch auf einmal wurde ich von einer mysteriösen Männerstimme geweckt.
Diese schien jedoch nicht allein zu sein, denn kurz nachdem ich die erste Stimme
vernahm, hörte ich noch eine zweite, welche etwas höher und unsicherer klang.
Diesmal versuchte ich gar nicht erst, meinen Kopf zu heben und die Augen zu
öffnen, sondern lauschte den Stimmen. Ich musste herausfinden, wo ich überhaupt
war und was sie mit mir vorhatten.
„Nein, wir machen das jetzt wie geplant. Bis jetzt hat alles doch sehr gut funktio-
niert, wie du siehst!“, sagte eine tiefe Männerstimme. „Aber wer garantiert dir, dass
es weiterhin so funktionieren wird?“, fragte die höhere, etwas unsichere Stimme.
„Du siehst doch, dass wir ihr Vertrauen durch die Berichte gewonnen haben. Wir
haben bis jetzt jedes Mal eine Antwort erhalten, sie kaufen uns ab, dass wir Vanth
sind“, beantwortete der Mann mit der tieferen Stimme.
„Aber Sir, seid ihr sicher, dass wir so weiter machen und dass wir den letzten
Bericht nutzen sollen, um an das Geld zu kommen?“ Wieder vernahm ich die
Unsicherheit in seiner Stimme. Schwindel überfiel meinen Geist. Alles fühlte sich
weit weg an, fast schon wie ein Traum. War es ein Traum? Ehe ich weiter versuchen
konnte, dem Gespräch der beiden Männer zu lauschen, merkte ich, wie mein Kopf
anfing, sich erneut zu drehen. Mein Körper wurde schwerer und schwerer. Dunkel-
heit bäumte sich vor meinem inneren Auge auf. Ich spürte, wie ich kurz davor war,
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das Bewusstsein zu verlieren. Das Letzte, was ich noch vernehmen konnte, waren
Schritte in meine Richtung, die in meinem Schädel widerhallten, bevor die Dunkel-
heit mich erneut überkam.
Als ich das nächste Mal wach wurde, schienen die Männerstimmen verstummt zu
sein. Jedenfalls hörte ich sie nicht mehr. Vorsichtig blinzelte ich gegen das schwache
Licht an. Trotzdem blendete es mich und ich brauchte einen weiteren Moment, bis
ich meine Umgebung erspähen konnte. Mein Schädel brummte nach wie vor. Ich
schien mich in einer Art Abstellkammer zu befinden, die jedoch zu einem recht
großen Anwesen gehören musste, da es sich um eine ungewöhnlich große Kammer
handelte. Sie muss ebenfalls zu einem sehr wohlhabenden Haus gehören, denn die
Wände gegenüber von mir wurden von zahlreichen, dunkelbraunen Regalen mit
akkurat aufgestellten Gläsern, Konserven, Kisten und Weinflaschen geziert. An
der rechten Wand standen Fässer und ein brauner Schrank mit zwei Kisten darauf.
Neben mir standen weiteren Regale und ein Tisch mit einer Maschine, die einem
recht alten Modell einer Nähmaschine ähnelte. Links von mir konnte ich eine Tür
erspähen, die mit zwei kleinen Fässern, die am wenigsten vollgestellte Wand im Ver-
gleich zu den anderen war. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer langer
Holztisch, der bereits leichte Gebrauchsspuren aufzeigte. Nachdem ich mich mit
meiner Umgebung bekannt gemacht hatte, versuchte ich mich aufzurichten und
merkte sofort meine Fesseln, die mir ins Fleisch meiner Handgelenke schnitten.
„Okay, erst aufstehen und versuchen etwas zu finden, womit ich sie durchschneiden
kann“, dachte ich, während ich suchend meinen Blick durch die Kammer streifen
ließ, in der Hoffnung, etwas Scharfes oder Spitzes zu erblicken. Doch auch nachdem
ich mit den Augen den ganzen Raum mehrfach durchsucht hatte, fand ich leider
nichts, womit ich mich befreien konnte. Erschöpft gab ich meinen Versuch auf und
versuchte mir einen anderen Plan zu überlegen, wie ich hier rauskommen würde.
Nachdem mein Geist mehrere Möglichkeiten durchforstete, wurde dieser immer
träger und gab sich irgendwann der Müdigkeit und Erschöpfung hin und ich verfiel
in einen unruhigen Schlaf.
Ich wurde durch das Knallen einer Tür abrupt geweckt. Ruckartig schlug ich
meine Augen auf und war bereits darauf vorbereitet, einen der beiden Männer vor
mir zu sehen. Doch es war keiner im Raum, ich war immer noch allein. Ich erblickte
ein kleines Tablett neben mir, auf dem ein lächerlich winziges Stück Brot lag und
einen Krug mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.
Ich richtete mich auf und versuchte etwas vom Brot zu essen. Während ich ver-
suchte die mickrige Speise, welche für mich dagelassen wurde zu essen, bemerkte
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ich ein schimmerndes Objekt auf der rechten Seite gegenüber von mir an der
Wand, wo die Konserven aneinandergereiht waren. Es wirkte wie ein langes sil-
bernes Objekt. Könnte es sein, dass…? Bingo! Etwas Scharfes! Bevor ich mich
versuchte aufzurichten, lauschte ich, um sicher zu stellen, dass niemand in meiner
Nähe war. Nachdem ich fünf Minuten gewartete hatte und nichts hören konnte,
richtete ich mich vorsichtig und langsam auf. Leichter Schwindel überkam mich,
doch nachdem sich mein Körper wieder langsam an das Stehen gewöhnte, wurde
meine Sicht schärfer. Nachdem ich mein Gleichgewicht wieder erlangte, bewegte
ich mich mit langsamen Schritten auf das Regal vor mir zu. Ich versuchte, so leise
wie möglich zu sein, da ich nicht wusste, ob meine Kammer bewacht wurde und
wie dünn die Wände waren. Man konnte nie sicher genug sein. Nachdem ich das
Regal erreichte, bestätigte sich mein Verdacht. Beim Gegenstand handelte es sich
tatsächlich um einen Dolch. Ich drehte mich um und versuchte, mit den Händen
auf dem Rücken den Dolch so zu drehen, dass die Klinge zu mir zeigte und ich so
meine Fesseln durchschneiden konnte.
Nachdem ich dies bewerkstelligen konnte, probierte ich durch Auf- und Abwärts-
bewegungen meines Oberkörpers, das Seil, welches meine Hände zusammenhielt,
durchzutrennen. Nachdem ich merkte, dass das so gut wie gar nicht funktionierte,
versuchte ich den Dolch in die Hand zu nehmen und damit das Seil durchzu-
trennen. Nach mehreren Versuchen, diesen im richtigen Winkel zu halten und
damit das Seil durchzuschneiden, ohne mich dabei zu verletzten, gelang es mir, das
Seil so weit durchzutrennen, dass ich meine Hände befreien konnte. Ich rieb mir
meine wunden Handgelenke und verstaute den Dolch im Bund meines Rockes an
meinem Rücken, sodass mein Umhang ihn bedeckte. Ich würde ihn definitiv noch
brauchen, da war ich mir sicher.
Ich setzte mich wieder in meine Ecke und aß mein Brot zur Hälfte auf, die andere
Hälfte verstaute ich im kleinen Säckchen, welches an meiner Taille an meinem Rock
hing. Ich bewegte mich zur Tür und versuchte zu lauschen und herauszufinden, ob
die Männer da waren oder nicht. Als ich nichts hörte, versuchte ich die Tür mit
einer meiner Haarnadeln zu öffnen. Nach mehreren Versuchen klackte das Schloss
und ich öffnete die Tür so leise und langsam, wie ich nur konnte. Ich riskierte einen
kurzen Blick nach draußen, sah jedoch nichts. Der kleine Flur war schwarz und
keine Menschenseele war zu sehen. Das war meine Chance, dachte ich. Nachdem
ich langsam in den Flur schlich, suchte ich die Treppe, die nach oben führte. Ich stieg
die Treppe hoch und versteckte mich am Ende des Ganges und schaute mich um.
Es war komplett dunkel, woraus ich schlussfolgerte, dass es wahrscheinlich mitten
in der Nacht war. Ich schien mich in der Küche des Hauses zu befinden und suchte
den Eingang zum nächsten Raum. Ich schlich durch die Küche und gelangte zum
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Wohnzimmer des Hauses, wo ich abrupt stehen blieb. Vor der Tür saß ein Mann.
Ruhig atmend lehnte er mit dem Kopf an der Wand hinter sich und schnarchte
friedlich. In dem schwachen Licht, welches die Glut im Kamin noch spendete,
konnte ich erkennen, dass er eine Art Uniform trug, die der eines Generals ähnelte.
Sein Schwert hing in der ledernden Scheide von seinem Gürtel und lag fast recht-
winklig zu seinen ausgestreckten Beinen auf dem Boden.
Langsam schlich ich in seine Richtung und überlegte, wie ich an ihm vorbei-
kommen könnte. Mit jedem Schritt konnte ich weitere Details erkennen. Viele
schillernde Anstecker zierten seine Schärpe. Sein Haar fiel ihm strähnig ins Gesicht.
Er konnte nur wenig älter als ich sein. Da kam mir ein weiterer Gedanke: Kann
das einer meiner Entführer sein? Aber er wirkte so friedlich in seinem schlafenden
Zustand.
Ruckartig schüttelte ich meinen Kopf. Ich konnte nicht noch mehr Zeit mit
diesen wirren Gedanken verschwenden. Ich musste hier raus.
Der Mann schien mit seinem Körper die komplette Tür zu bewachen. Suchend
schaute ich mich im Wohnzimmer um und entdeckte ein Fenster, welches nicht
ganz geschlossen war. ‚Das muss es sein‘, dachte ich und bewegte mich auf das
Fenster zu. Doch bevor ich auch nur die Hälfte des Weges geschafft hatte, blieb ich
abrupt stehen. Der Mann an der Tür schien sich zu bewegen.
Doch er drehte sich nur etwas zur Seite und ich atmete erleichtert aus. Bevor ich
meinen Fluchtplan fortsetzten konnte, griff ich suchend den Bleistift und ein Blatt
Papier, welches auf dem Schreibtisch rechts von mir lag und steckte sie mir ebenfalls
in meinen Gürtel. Abrupt hielt ich inne. Dieser Schreibtisch. Irgendwas in mir ver-
änderte sich und rüttelte eine längst verdrängte Erinnerung wach. Reflexartig bückte
ich mich und betrachtete eines der linken Tischbeine. Verdammt. Zu dunkel. Mein
Herz begann zu rasen. Ich musste einfach sichergehen, immer noch in der Hoff-
nung, mich zu irren. Mit der Hand fuhr ich langsam über das geschwungene Holz.
Da. Tiefer als in meiner Erinnerung fühlte ich etwas. Eine Kerbe und daneben – ja,
da war es ganz deutlich, ein V. Langsam fuhr ich es mit den Fingern nach, damit
ich sichergehen konnte, dass mir mein Verstand keine Streiche spielte. Aber es gab
keine Zweifel. Klar und deutlich ertastete ich das V, dass etwas schief und wackelig
in das Tischbein geritzt war. Tränen schossen mir in die Augen. Das war er. Das
war er wirklich, der Schreibtisch, unter dem ich als Kind gespielt hatte, wenn mein
Vater arbeitete. Blitzartig wurde es mir bewusst. Das war nicht nur der Schreibtisch
meines Vaters, das war auch sein Haus. Das Haus meiner Kindheit. Ein Knarren riss
mich aus meinen Erinnerungen. Meine Atmung wurde hektischer. Egal was das hier
alles in mir wachrüttelte, ich musste hier raus.
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Vorsichtig lief ich weiter zum Fenster, öffnete es, doch während ich mein Bein
zum Rausklettern ansetzte, rutschte ich ab und stieß eine Statue neben mir um.
Verdammt. Das wars.
Sofort wusste ich, dass der Mann wach war und ich sofort hier raus musste.
„Halt! Sie ist wach! Haltet sie auf!“, schrie der Mann durch das ganze Haus. Ehe
ich weiter nachdenken konnte, ließ ich mich aus dem Fenster fallen, rappelte mich
auf und rannte los.
Instinktiv rannte ich Richtung Stall, in der Hoffnung, dort ein Pferd zu finden, mit
dem ich verschwinden konnte. Panisch blickte ich mich im Sprint immer wieder
- Da hörte ich ein Wiehern. Etwas seitlich, an einem Halfter angebunden, ent-
deckte ich ein gesatteltes Pferd. Mein Glück war mit mir. So schnell ich konnte,
löste ich den Knoten und sprang auf seinen Rücken. Doch gerade als ich losreiten
wollte, sah ich einen Mann direkt auf mich zulaufen. Ich deutete dem Pferd an, sich
umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen. Alles passierte so schnell, dass
ich nicht nachdachte, nicht zögerte, doch da hörte ich ihn und erstarrte.
„Du wirst unseren Plan nicht so einfach zerstören!“, zischte der Mann atemlos.
Ohne mich zu ihm umzudrehen, wusste ich sofort, wer das war. Seine Stimme
drang tief in meinen Kopf ein, hallte in meinen Gedanken und Erinnerungen wider,
trieb mir die Tränen in die Augen. Es war nicht nur mein Entführer, nein. Es war der
meistgesuchte Hexer des ganzen Landes. Und, was noch schlimmer war – mein
totgeglaubter Vater.
„Du … du lebst?“, stammelte ich. „Wie kann das sein?“ Würde ich jetzt nicht auf
diesem Pferd sitzen, würde ich definitiv ins Straucheln geraten.
„Tja. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es sich bei unserer neuesten Geisel um
meine Tochter handelt, aber wie macht man sonst heutzutage Geschäfte, ne?“,
spuckte mein Vater mir die Worte vor die Füße. Ich brachte nichts anderes als ein
klägliches „Warum?“ raus. Daraufhin lachte mein Vater hämisch auf und zeichnete
mit seinem Schwert Kreise in den Sand.
„Nun, die Frage stellst du mir nicht als Erste. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir
diese Frage auch schon tausendmal selbst gestellt. Aber wie soll ich mich sonst
als Ausgestoßener über Wasser halten, hä? Und dann noch hier draußen in dieser
Einöde? Dieses Haus, unser Haus…“, er senkte den Kopf, korrigierte sich dann aber
hastig. „Mein Haus ist das Einzige weit und breit. Hier ist nichts mehr. Nichts.“ Per-
plex sah ich ihn an. Erwartete er jetzt wirklich Mitleid von mir? Sein Blick landete
wieder auf mir. Sofort verließ mich mein Mut wieder.
„Lass mich gehen“, presste ich leise hervor. „Nein, Prinzesschen. Ich brauche dich
noch. Du bist das, wo nach ich mich seit fast einem Jahrzehnt sehne. Also komm
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schon, steig ab und lass dich in meine Arme sinken!“ Mit einem falschen Lächeln
breitete er seine Arme weit aus, doch ich rührte mich nicht. „Du willst nicht mich!
Du willst mich als Pfand. Du willst nur deine Macht zurück!“ Endlich fand ich
meine Stärke wieder. „Nein, Prinzesschen, nein, jetzt sei nicht so.“
„Hör auf zu lügen und so zu tun, als würde ich dir etwas bedeuten. Dir hat Macht
schon immer mehr bedeutet als ich.“ Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie
mehrere Männer hinter mir mit Stöcken oder Speeren in Position gingen. Mein
Pferd wieherte nervös. „Lass mich gehen!“ Diesmal starrte ich ihm eindringlich in
die Augen.
„Bestimmt nicht. Ich habe nicht so lange gewartet, dich endlich zu finden, um
dich dann einfach so gehen zu lassen. Ich brauche dich. Und du, Prinzesschen wirst
mir helfen! Du wirst mir helfen, wieder nach Hause zu kommen, wieder der Herr-
scher über dieses Land zu werden!“
„Einen Scheiß werde ich tun! Lass mich gehen!“ Langsam war meine Geduld
zu Ende. Ich versuchte zu zählen, wie viele Männer inzwischen hinter uns standen,
aber ohne den Kopf auffällig zu drehen, war es mir fast unmöglich.
„Ich bin der rechtmäßige Führer des Clans und wäre ich nicht damals von der alten
Königsfamilie reingelegt worden, wäre ich das auch immer noch! Diese Drecksfa-
milie sorgte dafür, dass wir fliehen mussten und ich meiner Position beraubt und
verbannt wurde. Nun ist es an der Zeit, dass unserer Land Gehenna wieder zu
seinem einzig wahren Besitzer zurückkommt.“ Besitzer? Das hatte er nicht wirklich
gerade gesagt. „Du bist doch nicht der Besitzer, geschweige denn der rechtmäßige
Herrscher! Auch wenn ich damals noch ein Kind war, so bin ich mir doch sehr
sicher, dass du zwar das Oberhaupt warst, aber die Clans immer zusammen regiert
haben. Hör also auf, dich für etwas zu halten, was du nie warst. Und jetzt ist der
Lord der rechtmäßige Regent.“ Bei dem Gedanken an ihn, erwachte diese Wärme
in mir, die ich seit unserer Prophezeiung jedes Mal fühlte, wenn ich an ihn dachte.
Ich musste lächeln und legte mir die Hand auf die Brust.
„Wir waren uns sicher, dass du dich auf den Weg machen wirst, um deine Kraft
mit Lord Levithan zu vereinen, doch das kann ich nicht zulassen. Für eine lange Zeit
haben wir immer wieder versucht, das richtige Mädchen zu finden, und jetzt ist es
endlich so weit. Du wirst uns nach Hause führen.“
Ich war sprachlos. Ich wusste gar nicht, welcher Teil in seiner kleinen Rede mich
am meisten schockierte. Den Teil, dass er von meiner Verbindung mit dem Lord
wusste, oder der Teil, dass die einzige Intention meines Vaters die ist, die Macht
zurückzubekommen, die er damals durch seine Unfähigkeit verloren hat.
Das Gefühl von Wut breitete sich in mir aus und brachte mich dazu, meine
Hände zu Fäusten zu ballen. Ich schluckte und versuchte so, meine Emotionen
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unter Kontrolle zu bekommen. „Aber du würdest es ja sowieso nicht verstehen.
Kinder sind und bleiben einfach immer etwas naiv. So sind sie halt. Aber das macht
es ja auch so einfach. Du musst wissen, ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass du
entkommen wirst, aber Jeremiah ist scheinbar wirklich dümmer als dumm. Er
kann nicht mal jemanden richtig festhalten. Naja, man muss am Ende ja wohl doch
immer alles selbst machen.“
Ich wollte etwas erwidern, doch meine Worte blieben mir im Hals stecken. Ent-
täuscht. Wütend. Verletzt. Alles auf einmal.
Es wollte einfach nicht in einen Kopf hinein, wie er so selbstsüchtig sein und
nur an Macht denken konnte. Wie er das Leid, welches er damals über uns alle,
ein ganzes Land gebracht hatte, nicht sehen konnte. Wie kann ein Mensch, der
auch noch mein Vater sein soll, nur aus Machtgier und ohne Vernunft handeln?
Nur wegen seiner Allianz mit der alten, grausamen Königsfamilie, die ihm Macht
und Reichtum versprachen, hatten wir alles verloren. War ihm das Wohl unseres
Volkes, unserer Gemeinschaft so egal? Tränen liefen mir über die Wangen und ich
saß weiterhin wie erstarrt auf dem Pferd. Doch plötzlich bekam ich eine Idee. Auch
wenn mein Vater wie ein machtsüchtiges Monster wirkt, ist er trotzdem noch ein
Mensch.
Ich stieg vom Pferd ab, schritt langsam auf ihn zu und nahm seine Hand. Ich ließ
die Erinnerungen und die Schmerzen, die ich und alle anderen durch die Flucht
und Zerstörung von Gehenna erfahren hatten, durch mich fließen. Sie erfüllten erst
meinen Geist, dann auch meinen Körper. Sie flossen durch mich, wie mein Blut,
breiteten sich weiter aus, bis in meine Hände und Fingerspitzen. Und schließlich
auch in seine. All das, was mich seither quälte, all das Schreckliche, was ich erlebt
hatte, zeigte ich jetzt meinem Vater.
Das Dorf brannte. Überall schrien Kinder, Frauen, Männer. Alle liefen umher und
versuchten ihr weniges Hab und Gut, welches noch zu retten war, zusammenzusu-
chen. Das Dorf glich einem Schlachtfeld und tote Körper der Clanmitglieder lagen
überall. Männer, Frauen auch Kinder wurden durch die Flucht und den Angriff der
alten Königsfamilie umgebracht.
Im nächsten Moment sah man ein kleines rothaariges Mädchen, welches wei-
nend auf ein Pferd gehievt wurde.
„Bringt sie in Sicherheit“, sagte eine weibliche Stimme dem Mann, der auf dem
Pferd saß. Der Blick der Frau war von Schmerz erfüllt und ihre Wangen waren nass
vor Tränen. Ihre Kleidung war blutüberströmt und sie hielt ihre Hand vor ihren
blutenden Bauch.
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„Sorgt dafür, dass sie in Sicherheit aufwächst und eines Tages zurückkehren
kann.“ Ihre Stimme brach zusammen, während sie sprach und dem Mädchen mit
letzter Kraft liebevoll über den Kopf streichelte.
„Keine Sorge. Sie wird eine Kindheit ohne all dieses Leid erfahren“, antwortete
der Mann und zog das Mädchen fester an sich. Die Frau gab ihr einen Kuss auf die
Stirn und sank kraftlos zu Boden. „Leb wohl, Vanth! Leb wohl mein Kind!“
„Jetzt beeil dich doch endlich!“, schrie die Nonne Vanth an und fuchtelte wild mit
den Armen. „Was kann denn an Gemüse schneiden so schwer sein? Kind, wir haben
es dir doch so oft gezeigt, warum kriegst du es nicht hin? Alle anderen Waisen-
kinder bekommen es doch auch auf die Reihe!“ Das kleine Mädchen mit den roten
Haaren war nun älter geworden und versuchte sich am Schneiden von Gemüse in
einer Klosterküche, in der sie scheinbar aufwuchs. Unter den Worten der Nonne
zuckte sie zusammen und lautlos liefen Tränen über ihre blassen Wangen.
Im nächsten Moment sah man sie allein in einem Wald, den sie durchstreifte und
traurig an einem Fluss zusammensackte. Man hörte nur das Plätschern des Flusses
und ein leises Schniefen. Das Schniefen wurde stärker und übertönte die Geräusche
des Waldes, indem sich das Mädchen befand.
„Hey du! Jetzt hab dich doch nicht so“, sagte eine jüngere männliche Stimme
und lachte dabei. Das Mädchen war nun auf dem Hof des Klosters und vor ihr
standen vier Jungen, die sich einen Ball zu spielten. „Du bist selbst schuld! Leute, die
nicht hier geboren wurden, gehören nicht her. Genauso wie du, Abschaum!“, sagte
einer der anderen Jungen und kicherte weiter mit seinen Freunden. Das Mädchen
ging mit gesenktem Kopf in Richtung des Klosters und Tränen kullerten ihr über
die Wangen. „Ja genau, geh weg! Hier will dich eh keiner haben du Abschaum!“
Gehässig lachten die Jungen und die Erinnerung verblasste.
Ich öffnete meine Augen und sah in die meines Vaters. Eine Träne kullerte ihm
über die Wange und er sah mich mit einem schmerzerfüllten Blick an. Langsam
nahm ich meine Hand aus seiner. „Ich wusste gar nicht, dass du so etwas durchma-
chen musstest“, stammelte er und senkte seinen Blick zu Boden.
„Meine letzten Jahre waren die Hölle. Nachdem unser Zuhause zerstört wurde,
wurden wir überlebenden Clanmitglieder verfolgt. Die Königsfamilie wollte sicher
gehen, dass niemand mehr übrig war, der Anspruch auf das nun verwaiste Gehenna
erheben konnte. Sie wollten das Land nur für sich. Du hast das nicht sehen wollen,
obwohl es dir so viele gesagt haben.
Durch deine Allianz mit ihnen und deine Naivität… Du wurdest reingelegt und
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hast unsere komplette Familie zerstört. Deinetwegen starb Mutter an diesem Tag.“
Ich musste innehalten und wischte mir lautlos eine Träne aus dem Gesicht. „Aber
jetzt, da Volkesland eine neue, freie Regierung hat, sah ich meine Chance, endlich
nach Hause zurückzukehren. Und nicht nur ich werde heimkehren. Ich werde dafür
sorgen, dass alle anderen Überlebenden ebenso zurückkehren können. Ich musste
all diese Jahre meine Identität als Clan-Erbin geheim halten. Ich musste als Waise in
einem Kloster aufwachsen und auf den Tag warten, an dem mir durch die Prophe-
zeiung die Verbindung zu Lord Levithan gezeigt wurde. Dieser Tag gab mir wieder
Hoffnung. Ich war mir sicher. Ich würde alles dafür geben, zurück nach Gehenna zu
kommen, meine Position als rechtmäßige Clan-Erbin an der Seite des Lords anzu-
treten und dem Clan neues Leben zu schenken. Ich wusste, dass ich Gehenna mit
ihm wieder aufbauen werde. Durch meine Visionen erkannte ich, dass er mein See-
lenverwandter ist und ich nur mit ihm zusammen einen Neuanfang starten kann.“
Als ich an den Lord dachte, wurde mir wieder so wohlig warm, dass ich ganz genau
wusste, ich tat das Richtige.
„Als ich dann mitbekam, dass der Hohe Rat Freiwillige sucht, die die Nachbar-
länder erkunden, wusste ich, dass ich so nach Hause kommen würde. Das Kloster
wollte mir all die Jahre nicht helfen und keinerlei Hilfsmittel für so eine Reise zur
Verfügung stellen. Sie hielten mich immer für verrückt, wenn ich ihnen von meiner
Heimat erzählte. Doch nachdem ich erfuhr, dass die neue Regierung jedem Rei-
senden Proviant, ein Pferd und etwas Geld für die Erkundung der Länder zur Ver-
fügung stellte, musste ich diese einmalige Chance ergreifen.“
Ich sah meinen Vater hoffnungsvoll an und wartete auf eine Reaktion. Zuerst wich
er meinem Blick aus. Ich sah ganz deutlich, wie er überlegte und seine Gedanken
kreisten. Genau das war mein Ziel mit den Erinnerungen. Vielleicht war nach all
den Jahren noch etwas Menschlichkeit in ihm zu finden.
„All das Leid war dein Werk. Du hast es mit deinen machtgierigen Taten ausge-
löst. Du hast dafür gesorgt, dass hunderte unserer Familienmitglieder ausgelöscht
wurden.“ Schwer schluckte ich die Worte hinunter und ließ meinen Vater die Wut,
die ich bei den Erinnerungen daran empfand, spüren. „Doch noch ist es nicht zu
spät. Noch kannst du alles ändern und zu einem neuen Anfang beitragen. Du
kannst mir helfen, einen Neuanfang zu gestalten und deine Gräueltaten wieder gut
machen. Ich bitte dich, Vater. Du schuldest es mir. Bitte lass mich gehen und gib
mir die Möglichkeit, nach all den Jahren unseren Clan wieder zu vereinen, die Kraft
unserer Clans zu entfalten und ihm neues Leben zu schenken, unsere Familien und
Mitglieder wieder zusammenzuführen und ihnen allen ein neues, vertrautes und
liebevolles Zuhause zu geben. Für uns alle zusammen.“
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Nach meinen letzten Worten war ich nun auch zu Tränen gerührt. Meine Hände
zitterten und ich schaute meinen Vater hoffnungserfüllt und flehend an. Ich hoffte
so sehr, dass er endlich verstand, was er mir angetan hatte. Aber all meine Wut
schien zu verrauchen, als würde sie einer tiefen Sehnsucht weichen. Eine Sehnsucht,
die all die Jahre immer da war, aber nie an die Oberfläche drang. Doch jetzt war mir
alles egal. Ich war so kurz vor meinem Ziel. Alles, was mich aufhielt, war er. ‚Soll er
doch meine Trauer sehen‘, dachte ich nur und gab mir keine Mühe mehr, meine
Tränen zurückzuhalten. Stille legte sich zwischen uns und mein Vater schaute mir
in die Augen. Eine weitere Träne lief seinen Wangen hinunter und er nahm meine
Hände.
„Meine Tochter. Wie konnte ich so blind sein? Wie konnte ich meine Familie ver-
gessen und so besessen von Macht sein, die ich bereits vor Jahren verloren habe?
Oh Vanth, ich hoffe du kannst mir nach all den Jahren verzeihen. Bitte, reite davon
und finde Lord Levithan, um eure Verbindung zu besiegeln und diese ein für alle
Mal mit neuem Leben zu beflügeln.“
Bei diesen Worten hüpfte mein Herz und es breitete sich wieder diese wohlige
Wärme in mir aus. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich drückte die
Hände meines Vaters fester. Ich zog ihn in eine innige Umarmung. „Oh Vater. Ich
danke dir. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Nicht nur ich werden es dir
danken, sondern auch unsere neue Familie. Du wirst deine Vergangenheit wieder
gut machen können und einen völligen Neunanfang finden, das verspreche ich
dir. Danke.“ Noch eine Weile standen wir Arm in Arm da. Ich weiß nicht wie lange,
aber als wir uns losließen, sahen wir uns in die Augen. Das erste Mal erblickte ich
Liebe in seinem Blick. Der Hass, mit dem er mich zu Beginn angeschaut hatte, war
verschwunden und dem Stolz und Bewunderung gewichen. „Mach dich los, Kind.
Mach dich auf den Weg zu deinem Neuanfang.“ Damit ließ ich die Hände meines
Vaters los und stieg auf mein Pferd.
Mit einem ‚Danke‘ blickte ich noch ein letztes Mal zu meinem Vater und brach
dann auf. Auf zu einem Neuanfang. Auf nach Hause.
3. Nebula
Der Nebel wurde stärker… er vernebelte mir den Kopf….
Nahm mir die Sicht.
Schwanden nun meine Kräfte? Wie weit kann ich meinen Sinnen noch vertrauen? Habe
ich mir zu viel zugetraut?
Werde ich finden, wonach ich suche?
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Tage mussten vergangen sein, seit ich auf dem Weg zu Lord Levithan war. Ich
war mir mittlerweile sicher, dass ich die Grenze zu Gehenna übertreten hatte, da die
Umgebung sich dem Nebel annahm. Nachdem ich einigen dieser toten Kreaturen
über den Weg gelaufen war, war ich mir ziemlich sicher, dass ich auf der richtigen
Spur war.
Durch meine Verbindung mit Levithan merkte ich, wie es mich förmlich in die
Richtung des Schlosses zog. Ein Schloss, welches ich schon mehrmals in meinen
Visionen gesehen hatte und von dem ich wusste, dass ich dort Levithan finden
würde.
Nachdem der Nebel immer rötlicher und dicker wurde, wusste ich, dass ich
nicht mehr weit entfernt war. Die Bäume waren weiterhin komplett kahl und ihre
Äste ragten wie kahle, dünne Dornen empor. Am Horizont, welcher sich auch zu
einem leichten Lila und Dunkelblau verfärbte, ragte die Spitze des alten und riesigen
Schlosses empor.
Es stand auf einem Hügel und besaß sechs kleine spitze Türme und einen grö-
ßeren Turm in der Mitte. Es wurde von einem roten Licht von unten beleuchtet,
welches den Anschein gab, dass die Fassade diese Farbe hätte. Doch wenn man ihr
näherkam, sah man, dass sie in ein dunkles Grau getränkt war. Hinter dem Schloss
stiegen zahlreiche Berge empor.
Als ich nun fast vor dem Schloss stand, bemerkte ich schnell, dass dieses von einer
steinernen Mauer umrandet war und ein einziges eisernes Tor Zutritt gewährte. Ich
stieg vom Pferd ab und führte es an den nächsten Baum, an dem ich es anband.
Ich legte meine Hand gegen das schwere Tor und versuchte dieses aufzuschieben.
Die Tür gab mit sehr viel mehr Leichtigkeit als gedacht nach und offenbarte einen
kahlen Hof. Ein sehr eigenartiger Geruch stieg in meine Nase und brachte mich
leicht ins Wanken. Ich stolperte in den Hof und lief geradewegs zur gigantischen Tür
des Schlosses. Doch bevor ich dieses öffnen konnte, durchfuhr meinen Geist ein
Gefühl von wohliger Wärme, welche mich kurz ins Stolpern brachte. Ich taumelte
nach hinten und ehe mein Körper gegen den harten Stein schlug, merkte ich, wie
ich von sanften Händen aufgefangen wurde. Doch der Anblick meines Retters blieb
mir vorerst verborgen, denn das Einzige, was ich noch mitbekam, war ein sanftes
Aufheben eines geschwächten Körpers und eine sehr tiefe, aber warme Stimme, die
mir beruhigende Worte entgegen flüsterte.
Ich wachte in einem pompös dekorierten Raum auf. Das Bett, in dem ich lag, war
ein Doppelbett, das mit goldenen Ranken und Verzierungen an den Ecken seiner
Säulen gestaltet war. Das Kopfbrett war ebenfalls mit Blättern, Dornen und Ranken
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geschmückt. Langsam richtete ich mich auf und sah mich weiter um. Das Zimmer
war recht groß und hatte einen Kleiderschrank sowie einen riesigen Spiegel und
einen Schminktisch, auf dem ein Kleid lag. Alle Möbel waren in Gold gehalten, an
deren Ecken und Rändern wurden die Muster vom Bett wieder aufgenommen.
Ich stieg aus dem Bett und lief zum Kleid, welches auf dem Schminktischstuhl lag.
Es war in einem wunderschönen Dunkelblau gehalten, hatte silberne Akzente an
seinen Schultern und Ärmeln. Das Korsett war weiß, ebenfalls mit silbernen Ver-
zierungen, welche wie Dornen ineinander verschlungen waren. Der Rock war
aus einem sanften Samt, der sich in mehreren Lagen angenehm auf meiner Haut
anfühlte. Ohne weiter darüber nachzudenken, stieg ich in das Kleid und schaute in
den Spiegel. Ich richtete mein Haar, indem ich es kämmte und die Seiten wegflocht.
Zufrieden sah ich mich im Spiegel an und sah, wie angegossen mir das Kleid doch
passte.
Ich verließ mein Zimmer und stieß auf einen imposanten Flur, welcher mehrere
Räume an jeder Seite hatte. Am Ende des Flurs fand ich eine Treppe, welche ich
runterging. Ich wusste nicht ganz, wohin ich wollte, doch etwas in mir zog mich in
den Ballsaal. Die wohlige Wärme, die ich zuvor das letzte Mal beim Erreichen des
Schlosses gespürt hatte, breitete sich wieder in meiner Brust aus. Diesmal wurde
sie von einer Art Kribbeln begleitet. Als ich an den zwei großen Türen zum Ballsaal
angekommen war, hielt ich kurz inne. Was würde mich hinter den Türen erwarten?
Ich kannte den Lord doch gar nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Konnte ich
meinen Visionen und Gefühlen so sehr vertrauen? Bevor ich weiter spekulieren
konnte, legte ich meine Hand auf die Türklinke und drückte sie hinunter.
Der Ballsaal, war in einer Mischung aus Gold und Silber gehalten. Die Blätter,
Dornen und Ranken, die in meinem Zimmer waren, waren hier an den Wänden
ebenfalls zu sehen. Der Boden war dafür recht schlicht, aber das alte Parkett glänzte
so prachtvoll, dass ich mich fast darin spiegelte. Doch was meinen Blick noch mehr
einfing, war die Person, die scheinbar auf mich gewartet hatte. In der Mitte des
Raumes stand ein Mann, in einen Anzug, der den gleichen Blauton hatte wie mein
Kleid. Seine langen, schwarzen Haare waren zur Hälfte mit einem blauen Band
zusammengebunden. Als er sich umdrehte, sah er mich.
Zuerst sah er mein Kleid, schaute es sich von unten nach oben an und ein kleines
Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Dann wanderte sein Blick immer weiter höher
und blieb an meinen Augen hängen, wo unsere Blicke sich trafen. Sein Gesicht war
wunderschön. Es war, als wäre es aus Porzellan gefertigt worden. Es wirkte perfekt,
außer einer kleinen Narbe an der rechten Seite, die oben an seiner Augenbraue
anfing und bis zur Mitte seiner Wange runterging. Seine karamellfarbenen Augen
strahlten, als er in meine blickte. In dem Moment, wo wir uns anschauten, wussten
strahlten, als er in meine blickte. In dem Moment, wo wir uns anschauten, wussten
wir, dass wir uns gefunden hatten. Wir wussten, dass die Visionen und Gefühle,
die wir hatten, richtig waren. Obwohl wir uns noch nie gesehen hatten, wussten
wir, dass wir füreinander geschaffen waren. Wir wussten, dass wir den Clan neu
erblühen lassen würden. Und ich wusste, dass ich endlich zu Hause war.
„Ich habe dich gefunden.“
VOLKESLAND
Aufbruch ins Unbekannte
Eine Gemeinschaftsproduktion von Markus Heitz und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf unter Leitung von Renate Zimmermann
Illustrationen: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner
Herausgeber: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V. und Renate Zimmermann
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