VOLKESLAND

Am Ziel: Ohne Gaul, Vorräte, durchnässt und durchgefroren


04.02.24 Auch im vergangenen Jahr schrieben die Mitglieder der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek einen Roman zusammen. Und wie schon im vergangenen Jahr wird es hier an dieser Stelle jeden Sonntag daraus eine Fortsetzungsfolge geben. Heute zu lesen von Candy Krüger und Leonie Dittrich das dritte Kapitel VAENETH:


Drittes Kapitel

„Der Rat sucht Leute, die die Länder außerhalb Volkesland erforschen?“

„Das kann ja nur böse enden!“

Die Stimmen seiner Eltern hallten durch die unteren Räume, laut und voll von

Spott. Natürlich fanden sie diese Idee schrecklich. Schließlich sprachen sie immer

davon, wie wunderbar erfüllt unser Leben hier in Volkesland sei. Typisch Konser-

vative. Humbug, das war das Beste, was der Rat überhaupt mal getan hatte, seit der

Herrschaft des Königspaares.

„Das wäre doch die Möglichkeit für dich, Sage, das könnte dir mit deiner Heil-

kundelehre sehr gelegen kommen.“

Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht seines Großvaters aus, als er in die

grauen Augen seines Enkels guckte. Welcher gerade von seinem Buch aufblickte.

„Aber Großvater“, er wollte noch mehr sagen, als seine Worte von einem starken

Husten seines Großvaters unterbrochen wurden. Seine Gesundheit wurde von

Tag zu Tag schlechter. „Ich kann dich bei deinem Gesundheitszustand nicht alleine

lassen.“



Illustration: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner

.

„Es heißt, außerhalb von Volkesland gibt es eine Pflanze namens Appoloria, sie

hat die Fähigkeit, Leute zu heilen und den Tod hinauszuzögern. Nicht viele haben

es geschafft, sie zu finden und keiner weiß, wo man sie findet. Wenn du sie zu mir

bringen kannst, könntest du nicht nur mir helfen, sondern auch vielen anderen.“

Seine Pupillen weiteten sich. Eine Pflanze, die den Tod verzögern sollte? Das

kann es nicht geben, oder doch? ‚Ich muss es herausfinden und meinen Großvater

damit heilen‘, dachte er sich. Und das waren nicht die einzigen Gedanken, die Sage

in dem Moment durch den Kopf gingen. Seine Eltern würden ihn jedoch niemals

in ein fremdes Land reisen lassen, geschweige denn allein. Es gab aber eine Person,

die er fragen würde.

Daraufhin machte er sich auf den Weg zur Schmiede, mit dem Wissen, dass diese

Idee wahrscheinlich bald den Bach runter gehen würde.

-

Die Schweißperlen tropften Atlas vom Gesicht, als ihre Worte Sage trafen.

„Ich gab mein altes Leben für mein jetziges auf. Also auch die Familie. Ich habe

keinen Großvater mehr“, antwortete Atlas streng, während sie ein neues Schwert

schleifte.

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Es schien edel und verziert zu sein, war wohl eines ihrer neueren Modelle.

„Kannst dir deine blöde Idee in den Allerwertesten stecken, du Hornochse!“

„Jetzt überleg’s dir doch nochmal, Atlas!“, widersprach Sage. „Du könntest mal

mehr als deine dreckige Werkstatt und doofen Metalle sehen!“

Atlas würdigte ihn keines Blickes. Es schmerzte dann doch ein bisschen zu sehr.

„Außerdem schuldest du mir noch was, nicht wahr, meine Lieblingsschwester?“

Mit verdrehten Augen griff Atlas zur Flasche. Ihre Gesichtsfarbe ähnelte nun

gänzlich der Flüssigkeit, die sehr wahrscheinlich in der Flasche hauste. Schon

lange hatte sie aufgehört, normale Becher zu verwenden. Der Grund blieb offiziell

unbekannt.

„Pah“, lachte sie auf. „Und dein Spatzenhirn hat sich auch schon einen Plan über-

legt, was aus meiner Werkstatt werden soll?“

„Warum? Dachte, du machst einfach das Gleiche wie damals.“

Zähneknirschend schmetterte Atlas ihre Flasche, die sie einige Straßen weiter

beim Töpfer gekauft hatte, auf den hölzernen Beistelltisch neben dem Brennofen.

Ihr Betrieb lief relativ gut, seit sie vor einigen Jahren ins Zentrum der Stadt gezogen

war. Die gemietete Wohnung an sich nutzte sie jedoch eher selten. Häufig war sie

auch zu unchristlichen Zeiten in einem der wenigen Hinterräume der Schmiede

aufzufinden, um dort noch bis zum frühen Morgen weiterzuarbeiten. Obwohl

das Verhältnis zu ihren zwei oder drei Angestellten freundschaftlich und offen

war, wollte Atlas sich nicht auf ihre Mithilfe verlassen. Atlas verließ sich nie auf

jemanden.

„Wann gedenkst du, loszureisen“, fragte sie und würdigte ihren jüngeren Bruder

keines Blickes. Möglicherweise aus Scham.

Augenrollend wendete er den Blick von ihr ab. „War das jetzt so schwer, Schwes-

terchen? Schließlich war ich nicht der, der dich verraten hat.“

Sage wusste nicht, warum genau er sie fragte, ihn zu begleiten, da sie wohl jede

Art von Verachtung für ihn empfand. Vielleicht war es ja eine gute Möglichkeit für

beide, sich endlich mal auszusprechen. „Es geht morgen Mittag los, der Rat stellt uns

eine Kutsche bereit, mit der wir zu unserem Ziel gelangen können.“ Ein Schweiß-

tropfen lief seine Stirn hinab wegen der prallen Hitze des Ofens und der Anspan-

nung zwischen Atlas und ihm.

*

Grelle Sonnenstrahlen schienen durch die großen Fenster in das Gemach von

Sage, als er die wichtigsten Sachen für die Reise in eine Tasche packte. „Vergiss das

hier nicht“, schallte die rustikale Stimme seines Großvaters durch den Raum, als er

Sage ein Notizbuch reichte. „Mein Tagebuch?“

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„Schreib alles auf und berichte mir von deiner Reise, wenn du wieder heimkehrst.

Die guten, aber auch die schlechten Momente der Reise werden dich prägen und

dir helfen, viel über dich selbst zu erfahren“, versprach der Alte seinem Jüngling.

„Natürlich, Großvater.“ Nachsichtig packte er das Buch ein und trat aus dem Haus,

in dem er seit 18 Jahren wohnte. Es fiel ihm nicht schwer, diesen Ort hinter sich zu

lassen, schließlich hatte er nie das Gefühl, hier ein Zuhause zu haben. Am Markt-

platz entdeckte er die glänzenden weißen Haare seiner älteren Schwester. Ob sie

wohl nüchtern war? Die Antwort stand wohl in den Sternen. Zögernd lief er auf

sie zu. „Na dann, bringen wir es hinter uns, Schwesterchen“. Atlas funkelte ihn aus

grauen Augen böse an. „Wenn meine Werkstatt in ein paar Tagen abgebrannt ist,

weil der bucklige Bernhard die Leitung übernimmt, zahlst du mir alles zurück. Ist

schon schlimm genug, dass ich dem jetzt mehr Kreuzer zahlen muss.“

„Wenn du diesem buckligen Bernhard so wenig vertraust, warum stellst du ihn

dann ein?“

„Weil er mich nach einem Job gefragt hatte und ich ihm etwas schuldig war. Des

Weiteren ist er einer meiner engsten Freunde.“

„Freund?“, hakte Sage skeptisch nach. „Nennt man so jetzt etwa so seine Saufkum-

pane, die einem die Haare zurückhalten, wenn man Kinderlieder lallt?“

„Halt dein loses Mundwerk, du Balg. Ich bin keine Alkoholikerin!“

„Wenn ich dich jetzt frage, ob ich mir deine Tasche ansehen dürfte, was würde ich

dort finden? Zwei Flaschen Rum? Naja, wohl keine Erinnerungen an die Nächte,

in denen du wie eine Irre durch die Stadt ranntest“, bemerkte Sage nun schnippisch

und voller Arroganz.

„Nein, aber eine Faust, die dir dein loses Mundwerk schnürt, wenn du deinen

Allerwertesten nicht sofort in die Kutsche verfrachtest.“ Die Pferde wieherten als

Antwort und Sage bemerkte, dass er wohl oder übel dem Befehl seiner Schwester

nachkommen sollte.

Die Kutsche war klein. Nicht viel Platz für Privatsphäre und Abstand, dachte er

sich, als er sich in den Sitz gegenüber von Atlas drückte. „Warum hast du überhaupt

zugestimmt, mit mir zu reisen, wenn du lieber in deiner kleinen Schmiede versau-

erst?“ Ein leichter Unterton von Trauer in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Aus demselben Grund, warum ich Bernhard einstellte.“ Fragend schaute Sage

seine Schwester an. „Du hast etwas gut bei mir“, antwortete Atlas, bevor sie ihren

Blick von ihm abwandte.

Die nächsten Stunden vergingen stillschweigend.

„Kannst du nicht mal schneller machen? Der Gaul bewegt sich unter deiner Füh-

rung noch langsamer als unser Alter, der fast am Abkratzen ist.“

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„Rede nicht so über ihn, Großvater ist mehr ein Vater, als unserer es je war, aber

das müsstest du schließlich am besten wissen.“ Er wandte den Blick zurück auf den

Pfad und trieb das Pferd schneller an. Am Horizont war schon der Sonnenunter-

gang zu sehen. Eine Mischung aus rot und orange füllte den Himmel mit seiner

Pracht. Der Wind wehte leicht durch seine hellblonden, fast weißen Haare, als er

die Kutsche in die Abenddämmerung führte. „Wir müssen bald eine Pause machen,

dem Pferd geht die Puste aus, außerdem können wir im Dunkeln nicht reisen.

Zeigst du deine tollen Schmiedekünste und machst ein Feuer? Schaffst du das oder

brauchst du Alkohol, um zu funktionieren?“

„Keine Sorge, deine Kleider brennen gut und lodern hell, wenn ich sie anzünde.“

Die Kutsche hielt an der Seite des Pfades. „Such du lieber nach Holz, du bist ja so

vernarrt in die Natur! Würdest du nicht ständig deinen Kopf in unbekannte Kräuter

stecken, würde vielleicht mal was Anständiges aus deinem Spatzenhirn kommen.“

Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, waren voller Spott und Wut für ihren jün-

geren Bruder.

Die einzige Antwort, die sie darauf bekam, war ein schnippisches Zungen-

schnalzen ihres Bruders und ein leises, aber genervtes ‚tch‘, bevor er sich auf den Weg

machte, um Feuerholz zu holen. Als Sage außer Reichweite war, setzte sie sich auf

einen alten Baumstamm, um sich ihrer Gedanken und Gefühle klar zu werden.

Sobald er außer Reichweite war, fing er an, die Steine, die auf dem Weg lagen,

wegzutreten und zu murmeln, wie stur und welch ein Quälgeist Atlas doch war.

‚Soll sie doch zurück in ihre doofe Schmiede und sich im Alkohol versinken lassen‘,

dachte Sage bitter, als er seine etwas lang gewordenen, platinblonden Haare zusam-

menband. Eifrig suchte er nach geeignetem Feuerholz, um es zurück zur Kutsche

zu bringen.

„Hier hast du das Feuerholz“, sagte er, nachdem er es auf den Boden schmiss

und die Rumflasche aus Atlas Tasche holte. „Was soll das werden?“ Der aggressive

Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ein lautes Schmettern sorgte

für Stille zwischen den beiden. Glasscherben und die bernsteinfarbene Flüssigkeit

verteilten sich über die trockenen Fasern des Holzes. „Alkohol lodert hoch, wenn

man es anzündet, habe ich gehört. Da dachte ich, wir sollten das gleich nutzen.“ Die

Adern auf Atlas Stirn formten sich und ihre Hände ballten sich zu Fäusten beim

Anblick und der Provokation von Sage. Sie stürmte mit gefährlich großen Schritten

auf ihn zu, bis er ihren warmen Atem auf seiner blassen Haut spüren konnte.

„Ich ramme deine Visage gleich in deine dämlichen Kräuter, du Kobold. Dann

zeige ich dir, was gut brennt. Jetzt mach dich endlich nützlich.“

„Du bist doch die begabte Schmiedin, also hole deine Feuersteine und mach

Feuer, es wird kalt.“ Widerwillig und augenrollend holte Atlas die Feuersteine und

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entfachte das Feuer, das beide für die Nacht warmhalten sollte. Sie saßen am Feuer

und wichen dem Blick des anderen aus. Das Knistern und Lodern der Flammen

übertönte die unangenehme Stille zwischen den beiden, als sie ihr Laib Brot gegen

die Flammen hielten.

„Wie geht’s den alten Wirtschaftsliberalisten bei dir zuhause?“ schnitt Atlas die

bedrückende Stille zwischen den beiden. „Immer noch garstig und nur auf die große

Menge der Gulden aus. Unsere altbekannten, narzisstischen Dorfärzte halt.“

„Scheint, als hätte sich immer noch nichts geändert. Ist ja auch kein Wunder bei

den beiden.“

„Woher willst du wissen, dass sich nichts verändert hat? Du warst ja nie da.“

„Musst du immer darauf anspielen?“ Atlas sah aus, als würde ihr gleich Rauch

aus der Nase qualmen, als sich ihr Blick dem Jungen zuwandte. „Das ist der Grund,

warum wir uns nie ordentlich unterhalten können. Hak’ es ab, du bist kein kleiner

Junge mehr. Ich musste gehen, das weißt du ganz genau.“ Mit diesen Worten kehrte

die erdrückende Stille zwischen den beiden zurück, bis Sage sie anschaute.

„Du hättest dich wenigstens verabschieden können, statt ohne Worte zu ver-

schwinden.“ Das war einer der ersten Momente, in denen seine Worte ernst und

nicht spöttisch waren.

„Ich halte die erste Nachtwache, ich kann deinen scheußlichen Anblick gerade

nicht ertragen.“

Diese Worte trafen Sage wie ein Stein, was ihm nur noch mehr Grund gab, seine

Entscheidung zu bereuen.

Die Sonnenstrahlen schienen durch das kleine Fenster der Kutsche. Ein neuer

Tag begann.

Als Sage aus der Kutsche stieg, sagte er kein Wort zu Atlas, viel zu sauer über die

Ereignisse von letzter Nacht. Er sattelte das Pferd und machte es für die nächsten

Stunden der Reise fertig. „Du kannst dich in der Kutsche ausruhen, ich weck dich,

wenn wir wieder anhalten.“ Seine Tonlage verriet, dass er keine Lust hatte, überhaupt

ein Wort mit ihr zu wechseln, als er das Pferd an die Kutsche leinte und aufstieg.

Ohne ein Wort stieg Atlas in die Kutsche, damit sie die Reise fortsetzen konnten,

noch immer erschöpft von der Wache.

Die nächsten Tage und Nächte verliefen ähnlich mit wenigen Worten, bedrü-

ckender Stille und abweichenden Blicken. Beide waren zu stur, um überhaupt mit

dem anderen zu reden, geschweige denn, sich zu entschuldigen. Es fühlte sich an, als

würde die Zeit noch langsamer vergehen, je mehr sie sich anschwiegen.

„Sage, wach auf.“

„Sage!“, hörte er Atlas rufen. Dieses Biest konnte einem noch nicht einmal seinen

wohlverdienten Schlaf gönnen. „Sage, jetzt erhebe deinen Allerwertesten und schau

mal aus dem Fenster!“ Seine Schwester übernahm glücklicherweise die Kutschen-

führung, nachdem er die letzten Nachtwachen gehalten hatte. Widerwillig, aber

genervt gab er dem Befehl seiner Schwester nach und betrachtete die Landschaft.

„Damit hast du wohl nicht gerechnet, hm?“, fragte Atlas ein bisschen zu

selbstzufrieden.

Direkt vor Sages Augen befand sich nun ein Schild mit der Aufschrift ‚Vaeneth‘.

Seit dem Führungswechsel waren die beiden gut in der Zeit geblieben, sogar zwei

Tage vor dem ursprünglichen Termin eingetroffen. Atlas’ Bruder blickte verschlafen

durch die verwilderte Landschaft. Vaeneth war ein kleines Dorf, umzingelt von

tiefen Nadelwäldern, es war fast unmöglich, sich nicht zu verlaufen. Glücklicher-

weise war Atlas nüchtern genug, um den Trampelpfad vor ihrer Nase zu sehen.

Auch, wenn ihr Gesicht etwas anderes verriet. In den letzten Monaten machten

sich die Falten auf ihrer Stirn und die dunklen Augenringe so bemerkbar, dass er

manchmal gar nicht glauben wollte, dass sie nur wenige Jahre älter als er war.

-

Arnold-Herbert Ziegenkutsch wohnte in einem kleinen Häuschen in der Mitte

des belebten Marktplatzes. Die Gassen waren in Vaeneth so verdammt eng, dass

sie ihre Kutsche samt Pferden an einem der weiter draußen gelegenen Bauernhöfe

zur Verpflegung unterbringen und ihre wenigen Habseligkeiten die restlichen 15

Kilometer selbst schleppen mussten.

Die Menschen in Vaeneth waren in der Tat gewöhnungsbedürftig. Es war ein viel

zu großes Gerammel auf viel zu kleinem Raum. Die Händler schrien um die Wette,

um so ihre Ware so zu verkaufen.

„Würde mir ja stinken, wenn ich hier wohnen müsste“, bemerkte Atlas, als sie

nach oben in die Wohnhäuser blickte. Es war beachtlich, wie sie es schafften, ihre

Wäscheleinen von Haus zu Haus zu spannen. „Jetzt tu mal nicht so, als wäre deine

Wohnung besser. Bin ja überrascht, dass du überhaupt eine hast“, erwiderte Sage, als

er die Augen verdrehte.

Einige Zeit später standen sie vor einem einfachen Häuschen. Im Erdgeschoss

schien ein Schuhmacher seine Arbeit zu verrichten. Schon in den wenigen Stunden,

die das Geschwisterpaar in der Stadt verbrachte, war ihnen aufgefallen, dass jeder

Händler sein Geschäft im Erdgeschoss des Hauses betrieb. Zwar war ihnen das

nicht unbekannt, doch die Häufigkeit überraschte sie trotzdem.

Atlas richtete ihre Kleidung, bevor Sage gegen die Tür des Hauses klopfte. Wenig

später öffnete ein alter Herr die Tür. Er selbst schien zwar jünger als ihr eigener

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Großvater zu sein, jedoch war sein Gesicht weitaus mehr gezeichnet. Was auch

immer der Arme erlebt haben musste, es ließ ihn immer noch nicht in Frieden.

„Guten Abend, Herrn Ziegenkutsch. Mein Name ist Sage Collei Alaric und das ist

meine Schwester Atlas Gwendolyn Alaric“, fing Sage an, zu sprechen.

„Unser werter Großvater hat uns informiert, dass Sie so gnädig sind, uns für die

kommenden Wochen und Monate aufzunehmen“, übernahm Atlas.

Die dunklen Augen des Alten funkelten hinter seinen dicken Brillengläsern plötz-

lich grau auf.

„Ach, na was! So groß seid ihr geworden! Ich erkenne euch ja fast nicht mehr!

Kommt rein, kommt rein!“ Der Mann hinter der Tür schien die Geschwister besser

zu kennen als einige Verwandte, mit denen sie gesprochen hatten.

„Matthias, der Gute, hat mir schon viel von euch erzählt! Schaut mal, da drüben,

ihr könnt euch vor das Feuer setzen, Abendessen sollte ebenfalls gleich soweit

sein!“

Atlas und Sage setzten sich vollgepackt mit ihren Sachen auf die gemütlichen

Stühle vor dem Kamin. „Ich bin Arnold-Herbert Ziegenkutsch“, stellte sich der grau-

haarige Alte nochmals vor. „Für euch, meine Lieben, aber auch einfach nur Arnold“,

zwinkerte er.

„Ihr seid also auf der Suche nach dem Kraut, wie hieß es gleich nochmal?“

„Appoloria“, gab Sage zurück.

„Mhm, da habt ihr euch ja eine Aufgabe gesetzt. Was habt ihr ausgeheckt, dass

der Alte will, dass ihr dort draußen verhungert?“ Das Geschwisterpaar blickte sich

fragend an.

„Appoloria“, überlegte der Alte laut. „Wartet mal hier, ich habe erst gestern Abend

ein paar Bücher dazu herausgesucht.“

Als Arnold sich den Weg durch die leicht chaotische Stube bahnte, konnte man

ein sanftes Summen aus der Küche vernehmen. „Sage, Großvater meinte, der Alte

wohnt hier allein. Warum ist dann da eine liebliche Frauenstimme aus der Ecke

dahinten zu vernehmen? Glaubst du, er hält sich Sklaven?“ Atlas’ Bruder blickte sie

nur verdutzt an.

„Was guckst du so! Wir wissen nicht, wie die Gesetze in dieser Stadt aussehen.“

„Wenn das Glück auch nur ein kleines bisschen auf meiner Seite spielt, schaffe

ich es ja vielleicht, dich an ihn zu verkaufen. Jetzt, schau nicht so! Du bist Anfang 20

und bringst immer noch keine Enkel auf die Welt!“, äffte Sage ihre Eltern nach. „Und

einen guten Mann brachtest du auch noch nie nach Hause, Gwendolyn.“

Atlas erhob ihre Hand ruckartig als Androhung, dass sie ihm in absehbarer Zeit

eine kleben würde. „Hör auf. Du klingst ja fast schon so, wie unser Alter“, lachte sie

schwach.

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Das Thema ‚Wie werde ich eine angemessene Hausfrau‘ war zwischen Atlas

und ihren Eltern schon immer ein angespanntes Thema gewesen und führte nicht

selten, wenn nicht sogar täglich, zum Streit. Melancholisch verharrten ihre Augen

auf dem lodernden Feuer im Kamin. Es war schwer, Atlas’ Gesicht in Momenten

wie diesem zu lesen.

„Ah, hier sind sie!“, rief der alte Arnold von oben, bevor er sich auf den Weg zu

ihnen machte. In seinen Armen waren dicke Bücher, die so verstaubt waren, dass

man sie als solche schon fast nicht mehr erkannte. „Collei, Gwendolyn!“, rief der

Alte, „schaut mal, hier drin müsstet ihr doch fündig werden, nicht?“

Die beiden Geschwister schraken zusammen. Bisher nannten sie nur ihre Familie

beim Zweitnamen. Aber natürlich, ihr Großvater hatte seinem Freund wahrschein-

lich nur ihre Rufnamen in der Familie genannt. „Ich erschieße mich selbst, wenn

wir alles durchlesen und nicht fündig werden“, scherzte Atlas mit einem Fünkchen

Wahrheit.

„Camille, mach uns doch einen Tee, Weib!“, schrie Arnold, als er die Bücher auf

Sages Schoß fallen ließ. Das Geschwisterpaar schaute sich fragend an. „Camille?

Weib?“

Aus der Küche hörte man Wasser aufkochen und Tassen klirren, bevor eine junge

Frau, etwa in Atlas’ Alter, herausstolziert kam.

„Ja, Großvater“, sprach sie mit dem schönsten Lächeln, welches die Geschwister

seit langem sahen. Der Alte bemerkte die verdutzten Gesichter sofort.

„Camille, hast du etwa nicht unsere Gäste begrüßt?“ Das zierliche Mädchen

stellte die Teekanne und die dazu gehörigen Tassen auf den kleinen Holztisch.

„Entschuldigt, es freut mich sehr, Sie beide kennenzulernen.“ Weder Sage noch

Atlas konnten den Blick von ihr abwenden. „H-Hallo“, stammelte Sages Schwester

ungeschickt.

„Mein Kind, lass unsere Gäste erstmal arbeiten. Fang du doch schon einmal mit

dem Abendessen an.“ Während Atlas der jungen Dame hinterherschaute, öffnete

Sage eines der dicken Bücher. Laut las er vor:

„Wo die Frau zum Sonnenaufgang zeigt, sollet ihr mit Wissen belohnt werden.

Wo das Buch dann steht, sollet ihr zum Süden gehen. Wo auch der Tag sich seinem

Ende nähert, sollet ihr fündig werden. Doch ehe die Dämmerung eintrifft, ist es zu

spät.“

Er betrachtete das dazugehörige Bild der Appoloria-Blüte. Was sollte denn die

Scheiße jetzt? Wochen über Wochen vergingen, in denen keiner der Geschwister

so richtig einen Plan hatte.

*

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„Ich hab’s!“, rief Atlas genau zwei Monate später ein bisschen zu laut und zu auf-

fällig, als sie gerade ein paar Äpfel beim Obsthändler einige Straßen weiter unten

kaufen wollte.

„Was hast du? Einen an der Schüssel?“, entgegnete Sage genervt. „Nein, du blöder

Esel. Jetzt denk doch mal scharf nach! Wer zeigt kontinuierlich nach Osten?“ Sage

blickte sie stumm an und erwartete, dass seine Schwester jetzt auch noch den letzten

Funken Verstand verlor.

„Mann, die kleine Statue am Brunnen, du Pfeife. Haste mal wieder nicht gesehen,

weil dein fauler Hintern in der Kutsche schlief “, schnaubte Atlas. „Komm mit, du

alter Sack“, rief sie, bevor sie ihren Bruder mit rollenden Augen Richtung Stadt-

mauer zog. Den Apfel bezahlte sie übrigens nicht.

Das Geschwisterpaar nahm den Trampelpfad zum Bauernhof, auf dem sie ihre

Pferde abgestellt hatten. Atlas kam, wenn sie eine Idee hatte, immer auf Trab.

„Und wohin geht es dann?“, fragte Sage, leicht von seiner Schwester genervt.

„In die Bibliothek, mein Liebling.“, erzählte Atlas zuckersüß. „Ich weiß jetzt, wo es

hingeht!“

Mit den Pferden machten sie sich auf dem Weg. Atlas stolzierte voran und machte

sich als Navigation semi-akzeptabel. Stundenlang ging es durch diverse Felder und

Äcker, bis Sage stehen blieb. „Warte!“, schrie er. „Ich glaube, es türmt sich etwas auf.“

„Was soll sich schon auftürmen?! Ich türme mich gleich auf, wenn wir nicht bald

da sind. Ich habe Hunger wie Sau.“

„Halt den Rand, Weib!“, äffte Sage den alten Arnold nach. Beide hatten sich wäh-

rend ihres Aufenthalts bei Familie Ziegenkutsch nicht selten über den Idiolekt des

Alten lustig gemacht.

Atlas lachte genervt. „Atlas, es fängt bald an zu regnen, schau doch, wie die Krähen

und Raben sich verhalten!“

„Ach komm, das schaffen wir. Reiß dich einfach ein bisschen zusammen und

mach deinem Gaul Feuern unterm Hintern!“

’Ein bisschen Feuer unterm Hintern’ gefiel den Pferden übrigens überhaupt nicht.

Sage hatte recht und kurze Zeit später fing es wirklich an zu regnen. Es fing sogar an

zu stürmen und es dauerte nicht lange, bis die Pferde flüchteten. Pitschnass mussten

sie nun den unbekannten Weg zur Bibliothek allein meistern.

*

Nach der endlosen und qualvollen Reise durch das Waldgebiet kamen sie end-

lich an ihrem Ziel an. Ohne Gaul, Vorräte, durchnässt und durchgefroren.

Die Siedlung war klein und von einem großen Wald umgeben. Dennoch waren

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in dem ganzen Ort weit und breit keine Menschen zu sehen. Lief man jedoch tiefer

in das kleine Dorf, fand man den Marktplatz. „Sind das Zwerge?“ Ein erstaunter

Ausdruck zierte Sages blasses Gesicht.

„Ich dachte, die gibt es nur in Märchen.“ Atlas war ebenso erstaunt wie Sage. Er

öffnete seine Tasche, um zu sehen, wie viele Vorräte sie noch hatten.

„Wir sollten unsere Vorräte auffüllen, bevor wir in die Bibliothek gehen, durch

das Gewitter ist kaum noch etwas übrig.“ Ein kleines Nicken von Atlas reichte als

Zustimmung, bevor sie sich auf den Weg zum Marktplatz machten. Dort gab es

eine prächtige Auswahl an Beeren, Kräutern, Fisch, Fleisch, Brotlaiben, Werk-

zeugen, Schmuck, Körben, Alkohol und Wasser. Alles, was das Herz begehrte, war

auf diesem Markt zu finden.

„Leg mal einen Zahn zu, wir haben noch viel zu tun, Atlas. Und Alkohol zu

bewundern ist nichts, wofür wir Zeit haben. Dein Verhalten geht wirklich auf keine

Kuhhaut“, sagte Sage, während er sich an einem Stand für Brotlaibe anstellte.

„Was macht ein junger Mann wie du in einem Ort wie diesem?“ Der Zwerg

sah aus, als hätte er noch nie einen Menschen gesehen, dabei sah er doch ebenso

menschlich aus. „Meine Schwester und ich sind auf der Durchreise, wir suchen nach

etwas Bestimmtem.“

Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Zwerges aus. „Na dann wünsche

ich euch beiden einen angenehmen Aufenthalt hier in unserem Dorf.“ Während des

Gesprächs zwischen Sage und dem Zwerg war Atlas damit beschäftigt, sich neuen

Rum zu kaufen. Nachdem sie ihre Vorräte aufgefüllt hatten, machten sie sich auf

den Weg zur nahegelegenen Bibliothek. Jedoch standen mehrere Zwerge vor dem

Eingang, die so aussahen, als würden sie die beiden nicht so schnell hineinlassen.

„Wohin des Weges, ihr Menschen?“, fragten die kleinen Lebewesen. Es schien, dass

sie nicht so schnell nachgeben würden. „Was wollt ihr Winzlinge schon machen?

Uns mit euren Stöckern stupsen?“

„Atlas!“ Beide mussten sich das Lachen verkneifen bei dem Anblick der kleinen

Giganten mit ihren Stöckern, die sie fest in den Händen hielten. Das schien ihnen

wohl nicht gefallen zu haben, da sie diese nun auf sie richteten. „Sagt uns, was ihr

wollt, sonst kommt ihr an den Pranger.“

„Sicher, dass wir auf euren Zwergen-Pranger passen?“ Atlas konnte das Lachen

nicht mehr unterdrücken. Nach einem Räuspern wandte Sage sich an die Zwerge.

„Unser Verhalten ist nicht zu entschuldigen. Wir suchen nach einem bestimmten

Buch, das uns zu einer Pflanze führen soll.“

„Und warum sollten wir euch vertrauen? Bestimmt sagt ihr eurem Rat Bescheid

und sie nehmen uns alles weg.“

Einer der Gnome sprang auf. „Genau, ihr habt euch über uns lustig gemacht,

dafür solltet ihr bestraft werden.“ Sie kamen näher zu den beiden Geschwistern und

richteten die gespitzten Stöcker gegen die Hüften der beiden.

„Unser Großvater ist sterbenskrank und wir brauchen die Pflanze, um ihn zu

retten, danach verschwinden wir, versprochen. Und das Verhalten meiner Schwester

tut mir leid.“

„Was wollt ihr, um uns da reinzulassen? Rum? Brot? Unseren Kopf ?“ scherzte

Atlas mit einem großen Grinsen auf ihrem Gesicht. Die kleinen Giganten flüs-

terten und murmelten untereinander, bevor sie ihre Augen wieder auf die beiden

richteten.

„Zwei Flaschen Rum und 50 Kronentaler, außerdem werdet ihr dem Rat kein

Wort über das berichten, was ihr hier findet.“

„Einverstanden.“ Beide Geschwister stimmten dem Vorschlag zu und besorgten

das Gut.

Als sie alles zusammen hatten, brachten sie es den Bewachern der Bibliothek

und wurden hineingelassen. Die mächtigen Türen öffneten sich und offenbarten

den Stolz des kleinen Dorfes. Beide traten hinein, jedoch war es etwas schwer, sich

umzusehen, da es draußen schon dunkel wurde. „Lass uns morgen anfangen zu

suchen, ich bin viel zu müde“, gähnte Atlas. „Klingt gut, diese kleinen Quälgeister

haben mich ebenso träge gemacht“, stimmte Sage zu.

Sonnenstrahlen kitzelten ihre Augenlider, als das Morgengrauen anbrach. Das

Licht fiel in die Räume der Bibliothek und ließ das Gebäude in seiner Pracht und

Fülle erstrahlen.

„Guten Morgen, Schlafmütze, du durchsuchst den westlichen Teil der Bibliothek

und ich den östlichen, sag Bescheid, wenn du etwas Interessantes findest.“

Atlas, die noch immer auf dem Boden lag, richtete im Halbschlaf ihren Blick

langsam auf Sage.

„Müssen wir gleich bei Morgengrauen anfangen? Dir liegt wohl nicht viel am

Schlaf.“

Sage trank gerade etwas Wasser aus seiner Feldflasche. „Je früher wir fertig werden,

desto früher kannst du zurück zu deiner Schmiede und deinen Saufkumpanen.“

„Stimmt auch wieder, hoffentlich steht die Schmiede noch. Der bucklige Bern-

hard ist sehr tollpatschig, daher hat er wahrscheinlich auch den blöden Buckel.“

Widerwillig stand Atlas auf und streckte sich. „Verirre dich nicht, ich will dich nicht

auch noch suchen müssen.“ Beide liefen zu ihrer abgesprochenen Seite, Sage zum

Osten und Atlas zum Westen der Bibliothek. Stunde um Stunde verging, während

beide die erste von drei Etagen des Labyrinths von Bibliothek durchsuchten.

Während Atlas nur Bücher über die Königsfamilie fand, entdeckte Sage nur

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Bücher über die Geschichte Vaeneths.

„Atlas, ich habe was gefunden!“, hallte es durch die Bibliothek.

„Wo bist du Sage? Ich bin keine Magierin!“

„Im Ostflügel, in der historischen Abteilung.“ Atlas lief zu dem Ort, wo die

Stimme herkam.

„Wehe, es ist noch so ein doofes Kräuterbuch, denn das interessiert mich nicht.“

„Nein, das ist es nicht, guck doch!“ Das Buch, das Sage in den Händen hielt, war

voller Staub, welchen er wegpustete.

*

„Ein Buch über die Geschichte von Volkesland vor der Abriegelung? Was ist

daran jetzt interessant?“ Atlas Gesicht sprach tausend Worte.

„Willst du denn nicht wissen, wie es damals war?“

„Die Zusammenarbeit und Gemeinschaft?“

„Vielleicht war Volkesland damals nicht so kommunistisch wie heute.“

„Damals ist Vergangenheit, jetzt ist es ein kommunistisches Land, das versucht,

alte Fehler rückgängig zu machen.“

„Hast du was Besseres gefunden?“ Der genervte Unterton in Sages Stimme

war nicht zu überhören. „Nur Informationen über die Königsfamilie, nichts Inte-

ressantes.“ Die Langeweile stand Atlas auf die Stirn geschrieben. „Lass uns in den

anderen Etagen weitersuchen, ich verrecke hier noch vor Langeweile. Weißt du

überhaupt, wie das Buch aussieht, nach dem wir suchen?“

„Ich werde es schon finden, such du ganz oben und ich in der zweiten Etage.“

„Von mir aus, wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier unten.“ Nach diesen

Worten liefen beide in ihr Abteil und schauten sich weiter um. Beide suchten

ihre Etagen auf den kleinsten Millimeter ab, Buch für Buch, aber sie fanden nicht

das, was sie wollten. Nach zwei Stunden trafen sie sich wieder beim Eingang der

Bibliothek.

„Hast du was gefunden?“ Sages Blick richtete sich auf seine große Schwester.

„Außer den sinnlosen Stunden, die ich hier verschwendet habe, habe ich nichts

gefunden, was auch nur im Entferntesten von Nutzen sein könnte.“

„Wieso bist du überhaupt mitgekommen, wenn du dich nur beschwerst? Auf

deine ungehobelten Worte kann ich verzichten.“

„Immer noch – du hattest etwas gut bei mir.“

„Das schon wieder, du hättest von Anfang an bei deiner Schmiede bleiben sollen,

wenn du sowieso nichts zu tun gedenkst.“

„Das wäre sinnvoller gewesen als deinem nutzlosen Geschwafel zuzuhören.“

„Du hast sowieso niemals jemandem zugehört.“

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„Wieso sollte ich auch einem dummrissigen Hirnschwätzer wie dir zuhören?!“

„Lass doch dieses dämliche Geschwafel und halt den Mund! Du gehst mir so auf

den Senkel!“

„Verschwinde und betrink dich, das sind schließlich die einzigen Sachen, die du

gut kannst!“

Sages wütende Worte trafen sie. Ohne weitere Worte wandte sie den Blick ab und

lief fort.

Er wusste nicht, wohin sie lief, aber es interessierte ihn auch nicht. Die Bibliothek

war schließlich groß genug, damit beide ihre Freiheit hatten, um voneinander ent-

fernt zu sein.

Er hatte schließlich besseres zu tun, als seiner Schwester nachzurennen. Als er sich

umguckte, sah er ein kleines Licht in einem der Bücherregale im Ostflügel. Ob es

von einem Buch oder einem Gegenstand war, wusste er noch nicht, aber das würde

er gleich herausfinden. Neugierig lief Sage zu dem besagten Buchregal, um nochmal

genau zu sehen, woher das Licht kam. Tief in Gedanken versunken, griff er nach

einem Buch, ohne zu wissen, was daraufhin passieren würde. Ein lautes Rumpeln

riss ihn aus den Gedanken. Einen Purzelbaum schlagend, fiel er in einen dunklen

Raum.

„Das hat wehgetan“, rief er, sich den Kopf und die leichte Beule reibend, die er vom

Sturz erhalten hatte. „Wo bin ich?“ Er schaute sich um, so gut es ging, um wenigstens

zu sehen, wo er hineingeraten war. „Bin ich hinter einem Regal?“, murmelte er zu

sich selbst, als er in Richtung des Lichtes schaute und den Ostflügel der Bibliothek

zu sichten bekam. Als er sich umdrehte, bemerkte er den großen Raum, der sich

ihm offenbarte. Er war dunkel und staubig.

*

Zu seinem Glück fand er eine Lampe. Der Raum erstrahlte in warmem Licht und

offenbarte sein Geheimnis. Bücher? Warum sollte man sie verstecken, war das etwa

Hexenwerk?

Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich eins der Bücher

aus dem Regal nahm. Alte Artefakte. Warum sollte man sie verstecken? Er durch-

blätterte das Buch und fand nichts, was ihnen weiterhelfen konnte. Minuten ver-

gingen und sogar Stunden, in denen er alle Bücher nach Hinweisen auf die Pflanze

durchsuchte. Nach einer Stunde hatte er endlich ein Buch mit der Aufschrift ‚Die

Geheimnisse der Kräuterwelt‘ entdeckt. Könnte das die Antwort auf ihre Suche

sein? Hastig blätterte er durch die Seiten des Buches, bis er auf einer Seite stoppte:

‚Das Geheimnis des Mondes Appoloria‘. Endlich, er hatte das Buch gefunden.

53

Geschwind eilte er zurück zu dem Licht, um das Buch Atlas zu zeigen, doch etwas

stoppte seinen Weg. Er kam nicht mehr raus. Gefangen hinter einem Bücherregal zu

sein, war wohl kein gutes Zeichen.

„Atlas! Schwing deinen Allerwertesten hierher und hol mich hier raus!“ Aber

egal, wie oft er nach seiner Schwester rief, er bekam keine Antwort. Was machte sie

denn? Wohl nichts Sinnvolles. Genervt lief er durch den Raum und sprach zu sich

selbst, da ihm sowieso niemand zuhörte. „Hätten wir uns nicht getrennt, wäre das

nicht passiert.“

Die Frustration in seiner Stimme war nicht zu überhören. Naja, er war ja der Ein-

zige, der sich gerade sprechen hörte. Stunde um Stunde verstrich, seit er in dem

Raum eingesperrt war. Was Besseres als Lesen hatte er wohl nicht zu tun, um sich

die Zeit zu vertreiben.

‚Wo ist denn eigentlich der dumme Bengel geblieben? Es ist schon Stunden

her, seitdem ich seine Visage gesehen habe.‘ Atlas kratzte sich am Kopf bei dem

Gedanken, wo ihr trotteliger Bruder abgeblieben sei. ‚Ich wollte auch damals schon

kein Verstecken mit ihm spielen, aber jetzt habe ich wohl keine andere Wahl, als

nach ihm zu suchen.‘ Stille hallte durch die Bibliothek, und keine einzige Spur zu

Sage war zu finden.

„Sage? Sage?! Antworte mir doch“, hallte es durch den Ostflügel. Sein Blick wan-

derte in Richtung der Stimme. „Atlas? Ich bin hier, hinter dem Regal!“

„Na dann komm raus!“ Ihr Augenrollen war selbst in ihrer Stimme zu hören.

„Würde ich wissen, wie ich hier rauskomme, hätte ich es wohl schon getan, du

Esel!“

„Fein, ich kann auch wieder gehen, dann kommst du erst recht nicht mehr hier

raus“, bemerkte sie genervt. „Klar, verschwinde und lass mich alleine im Dunkeln,

wie du es am besten kannst!“

„Halt den Rand, du Balg!“ Hätte sie ihm das lose Mundwerk stopfen können,

wäre das schon längst geschehen. Nur leider stand ihr das Regal dabei im Weg.

„Warum musst du immer aggressiv werden?! Hasst du mich so sehr?!“

„Natürlich hasse ich dich! Immer musst du mich an meine Vergangenheit erin-

nern, du Balg, kannst du nicht endlich damit aufhören, du hast kein Recht, sauer

auf mich zu sein.“

Ihr Gespräch artete schnell in einen großen Streit aus.

„Bei deinem Alkoholkonsum bin ich erstaunt, dass du dich überhaupt daran

erinnerst!“

„Ich bin keine Alkoholikerin! Ich trinke nur manchmal nach dem Feierabend mit

dem buckligen Bernhard.“

54

„Wenn dich das besser schlafen lässt, Schwesterchen.“

„Nenn mich nicht so! Außerdem kennst du mich gar nicht.“

„Wie denn auch? Du warst ja nie da! Und wenn du mal zuhause warst, haben du

und unsere Alten sich nur gestritten.“ Ihre Stimmen wurden lauter und lauter, als sie

sich durch das Regal anschrien. „Es ist nicht meine Schuld! Weißt du, wie sich das

anfühlt, ständig nur zu hören: Wann bringst du mal einen Ehegatten nach Hause

/ Verhalte dich wie eine Frau / Wann bringst du Enkel und Ehre in dieses Haus.

Weißt du, wie sich das anfühlt, du Esel?!“

Eine gedämpfte Stille folgte.

„Dann sei doch einfach mal wie eine normale Frau, Atlas. Rate mal, wer deinen

heißbegehrten Platz der Familienschande einnehmen durfte, als sich Madame

aus dem Staub gemacht hat!“ Sage wusste, dass er damit einen wunden Punkt

traf. Blau glänzende Tränenperlen sammelten sich nun in Atlas’ Augenwinkel.

Ihre schlimmste Sorge, dass es ihrem kleinen Bruder nicht gut ging, bestätigte sich

schlagartig.

„Wenigstens konnte ich einmal für mich selbst einstehen, du Weichling!“

„Wenigstens stehe ich zu meinen Fehlern und Sorgen, und trinke mir nicht die

Birne weg!

Du weißt doch nur, wie Wasser aussieht, weil du hoffst, dass man durch das

Baden deine Fahne nicht mehr riecht!“

„Ich hoffe du verreckst in deinem Kerker voller Bücher. Dann hast du wenigstens

irgendwas anderes in deinem Hirn als deine doofen Kräuter. Warum benutzt du

deine Kräuter nicht mal, um dein loses Mundwerk für immer zu stopfen?!“, rief Atlas

außer sich.

In einem Moment mit kühlem Kopf hätte sie solche Worte niemals gesagt. Doch

ihre Wut auf Sage und auf sich selbst gewann die Oberhand. „ Hey! Ich habe hier

ein Buch gefunden.“

„Ach wirklich? Hätt’ ich in einer Bibliothek nun wirklich nicht gedacht“, erwiderte

Atlas unbeeindruckt. „Jetzt sei mal ruhig, es hört sich interessant an. Ich glaube, es

könnte uns weiterhelfen.“

„Wie, weiterhelfen?“

„Na, mit unserem Problem hier“, antwortete Sage nachdenklich.

„Vielleicht sogar, mit mehreren Problemen auf einmal.“ Sage klang heiser, als ob

er nicht glauben konnte, was er da fand. „Wirklich? Na, sag schon, was ist es?!“, fragte

Atlas neugierig. ‚Das Handbuch für die Frau – wie verwöhne ich meinen starken

Ehemann richtig? Der Klassiker für jede Hausfrau‘.

„Ich hoffe du stirbst.“ fauchte Atlas ihren Bruder an.

Die Worte seiner Schwester trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube, aber

er wollte seine Haltung trotzdem beibehalten, um den Schmerz zu überdecken.

„Na, na, Schwesterlein. An deinem Mundwerk müssen wir aber nochmal arbeiten.

Kein Wunder, dass du jeden Mann vergraulst.“ In diesem Moment brannte eine

Sicherung bei Atlas durch. Alles um sie herum drehte sich vor Wut und sie wusste

nicht mehr, wohin mit sich selbst.

Sage traf mit seinen Worten einen wunden Punkt.

„Du kleines Scheusal, bei den Worten Gottes, ich werde auf dein Grab spucken,

solltest du jemals wieder da rauskommen“, schrie Atlas. Dadurch, dass es schon spät

am Abend war, waren nicht mehr viele Besucher außer dem streitenden Geschwis-

terpaar in der Bibliothek. Es war also ganz zu Atlas’ Glück, dass sie niemand anderes

als ihr Bruder hörte.

„Wenigstens würdest du dich dann einmal verabschieden, du Vettel! Aber das

sieht dir ähnlich, du hast es ja nicht so mit den ehrlichen Worten!“ Sages Worte

wurden lauter und mit jedem Atemzug härter.

„Du kannst nicht immer noch darüber sauer sein, Sage! Es ist fünf Jahre her,

nun mach mal einen Schlussstrich. Du wusstest ganz genau, dass dieser eine Tag

kommen wird, ich habe dich so oft gewarnt!“ Auf beiden Seiten der Wand war nun

ein leises Schniefen zu vernehmen. Beide Geschwister hatten ihr emotionales Ende

erreicht.

„Holzkopf.“

„Lackaffe.“

„Vettel.“

„Lumpen.“

„Gewitterziege.“

„Furznickel.“

„Gnatzkopf.“

„Grillenfänger.“

„Grobschnauze.“

„Krautkopf.“

„Rotznase.“

„Pissnelke.“

Sage und Atlas schrien sich weiterhin an. Zwar nahm das Niveau ihrer Unterhal-

tung mit jedem Wort ab, doch die Beleidigungen wurden immer kreativer.

„Atlas?“, fragte Sage mit gebrochener Stimme.

„Was?“

„Verschwinde.“

*

56

Der Mond schien hell und klar, doch bald würde auch der neue Tag heranbrechen

und Atlas wusste, dass sie spätestens dann ihren Stolz einmal herunterschlucken

und versuchen musste, ihren Bruder aus dem Geheimzimmer der Bibliothek zu

befreien. Müde und mit roten Wangen saß sie auf dem Dach der Bibliothek. Sie

wollte so weit weg wie möglich von ihrem Bruder sein, um ihm wenigstens diesen

Gefallen zu tun. Denn es fiel Atlas nicht leicht, ihre Liebe zu zeigen. Viel zu sehr

hatte sie Angst davor, von Sage abgelehnt zu werden. Wie hätte das denn auch aus-

gesehen? Die große Schwester musste doch stark für ihren kleinen Bruder sein. Das

war auch einer der Gründe, warum sie ihn so selten besuchte. Sie wusste, dass sie

angefangen hätte, bitterlich zu weinen und um Vergebung zu bitten, wenn sie ihn zu

lange angesehen hätte. Viel zu sehr schmerzte sie der Anblick ihres Bruders, dessen

Gesicht dem des gemeinsamen Vaters ähnelte. Deswegen konnte sie nicht lange

den Augenkontakt halten. Atlas schnippte den Deckel der Glasflasche herunter und

fing an zu trinken. Das konnte sie immer noch am besten.

Gefangen in den einsamen vier Wänden, die ihm seine Freiheit nahmen, saß Sage

auf dem kalten Boden dieses Raumes. Er wusste selbst nicht, warum er immer so

wutentbrannt reagierte, wenn er seine Schwester sah, schließlich war es nicht ihre

Schuld, dass ihn seine Eltern nach ihrem Auszug so behandelten. Jetzt verstand er,

warum sie weggegangen war und das alles hinter sich gelassen hatte, nun war er in

ihrer Position. Nie hätte er gewollt, so ein Biest zu sein, aber sich zu entschuldigen

würde die Vergangenheit und die scheußlichen Worte auch nicht ungeschehen

machen. Warum hatte er gesagt, dass sie verschwinden sollte, wenn das Einzige, was

er immer wollte, war, dass sie genau das nicht getan hätte.

Nach allem, was sich ereignet hatte, war sie das Vorbild, dem er stolz hinterher-

jagte, seit er ein kleiner Junge war.

Eine weitere Stunde versuchte er vergeblich, aus diesem Raum hinauszugelangen.

Ohne Erfolg. Schließlich fing er an, das Buch ’Die Geheimnisse der Kräuterwelt’

wieder und wieder zu lesen. Schließlich war ja genau das sein Spezialgebiet. Jeden-

falls so lange, bis er eine vertraute Stimme hörte. Sie lallte lächerlich. Natürlich war

seine Schwester mal wieder betrunken, wie immer, wenn sie besorgt, erschüttert

oder wütend war.

*

„Sage?“ flüsterte Atlas leise vor der doppelten Wand.

Laut genug, dass ihr Bruder sie erkannte, aber leise genug, um zu merken, dass es

ihr nicht gut ging. Ob es am Alkohol oder an den Emotionen lag, wusste er nicht.

Schließlich kam es nicht oft vor, dass sie traurig war.

57

„Bitte antworte, Sage.“

„Was willst du, Atlas?“ Sage wollte nicht antworten, aber so schnell wie möglich

aus dem verdammten Raum entkommen.

„Sage, ich liebe dich. Und das meine ich ernst.“

Atlas ließ sich vor der Wand hinplumpsen. „Du bist mein Bruder und ich liebe

dich. Ich habe dich niemals weniger geliebt. Du bist mein Ein und Alles.“

Sage blieb stumm. Es war nicht so, als wollte er darauf nichts erwidern, es war eher

so, als wäre sein ganzer Körper taub.

Atlas hörte etwas fallen. Auf der anderen Seite der Wand, brach Sage zusammen.

Es waren die Sätze, die er sich seit Jahren gewünscht hatte, zu hören. Die Sätze, bei

denen er gar nicht wusste, wie sehr er sie gebraucht hatte. Sätze, auf die er so lange

gewartet hatte.

„Sage, du weißt gar nicht, wie sehr es mir weh tat, dich zu verlassen. Ich weiß, ich

habe Mist gebaut und das nicht nur einmal. Ich wollte dich nie zurücklassen, aber es

ging einfach nicht mehr. Ich konnte Mama und Papa nicht mehr ertragen. Ich weiß,

dass ich mir sonst etwas angetan hätte“, schluchzte sie.

„Atlas, bist du betrunken?“

„Du Scheiß-Gaul, ich öffne dir hier mein Herz, und das ist alles, was du sagen

kannst?!“, schrie seine Schwester.

„Atlas, sieh dich an. Du bist betrunken. Schon wieder.“

„Na und?!“ Atlas’ Stimme wurde lauter. „Was geht dich das eigentlich an?!“

„Atlas“, nun schluchzte auch er, „ich mache mir Sorgen, Herrgott.“

Und wieder kamen in ihm die Bilder hoch. Jene Bilder, die ihn im Schlaf ver-

folgten. Nachdem Atlas unvorhergesehen das Elternhaus verlassen hatte, plagten

ihn zahlreiche Albträume. Fast nächtlich träumte er davon, seine Schwester nach

Jahren der Stille leblos in der Ecke liegen zu sehen. Und nachdem er von ihrem

Alkoholproblem erfuhr, erschienen ihm seine Träume mit der Zeit immer ein Stück

realer. Jeden Tag hatte er Sorge, er würde sie verlieren.

Das war wohl seine größte Angst, selbst wenn sie sich nicht mehr nahestanden.

„Es ist nicht deine Sache, was ich aus meinem Leben mache!“

„Ich will doch nur nicht, dass ich dich leblos in deinem eigenen Erbrochenem auf

der Straße finde!“

„Seit wann interessierst du dich für sowas?! Damals hatte es dich auch nicht inte-

ressiert, so anhänglich, wie du warst.“

Ihre Stimme wurde immer lauter und schroffer. Gerade, als er dachte, sie würden

sich endlich wieder vertragen, wurde ihm wieder gezeigt, dass nur der Alkohol aus

ihr sprach.

„Nüchtere aus und hol mich danach hier raus. Je schneller du deinen

58

Allerwertesten hochbekommst, desto schneller können wir wieder weg.“ Er sprach

leise, damit sie seine gebrochene Stimme nicht mehr hören musste.

Nach ein paar Stunden, die wie Tage erschienen, brachte etwas Licht wieder

Leben in den stickigen Raum.

„Sage?“, hörte man Atlas leise von der Gegenseite sprechen. „Es tut mir leid.“ Das

war wahrscheinlich das erste Mal, dass er diese Worte von ihr zu hören bekam.

„Was genau? Die Worte, dass du deine Stimme immer gegen mich erheben

musst oder dass du mich verlassen hast?“ Ein Seufzen war von der anderen Seite

zu vernehmen.

„Alles, aber auch, dass ich dich so behandelt habe. Du hast dir nur Sorgen gemacht

und das war auch berechtigt.“ Tränen schossen ihm in die Augen, als er diese Worte

hörte, schließlich war das etwas, worauf er so lange gewartet hatte, es sich so sehr

gewünscht hatte. „Schon in Ordnung, mir tut es auch leid, ich hätte sowas nicht zu

dir sagen dürfen. Ich wollte mich nie mit dir streiten.“ Auch Atlas traten Tränen in die

Augen. Dass ihr Bruder es ihr nicht übelnahm und ihr all diese Schandtaten verzieh,

war etwas, von dem sie nie geglaubt hatte, es zu erfahren.

Ein paar stille Minuten vergingen, in denen beide versuchten, ihre Tränen

aufzuhalten.

„Meinst du, du könntest mir hier raushelfen? Ich würde ungern noch mehr

Stunden hier verbringen.“ Ein kleines Lachen war zu vernehmen. „Kommst du da

etwa nicht allein raus? Du weißt doch anscheinend alles so gut.“

„Such einfach das Buch, das das Regal öffnet, Atlas.“ Das Augenrollen konnte man

aus seiner Stimme heraushören, als er darauf wartete, dass er endlich aus diesem

Raum rauskam.

„Woher soll ich denn wissen, welches es ist? Das sind bestimmt Hunderte!“

„Mach es doch einfach.“ Letztendlich fing Atlas an, Buch für Buch aus dem Regal

zu holen oder zumindest zu versuchen, ihren Bruder dort rauszuholen.

*

Das Regal fing schließlich an, sich zu öffnen. Wie sie das zusammen geschafft

hatten, war genauso ein Rätsel wie diese Pflanze, nach der sie suchten.

„Wir haben es geschafft, ich dachte schon, ich würde für immer in diesem Raum

hocken.“ Erleichterung war wohl das Einzige, was Sage gerade empfand, da er nun

endlich aus dem kleinen und stickigen Raum entkommen war.

„Du kannst dich gerne bedanken, ohne mich würdest du immer noch drin

hocken, du Tölpel.“

59

Ein Grinsen breitete sich auf Atlas Gesicht aus, als sie ihren Bruder aus dem

Raum holte.

„Ich weiß, ich weiß, danke.“

„Jedenfalls habe ich das Buch über die Pflanze gefunden.“

„Und was steht drin?“

„Es ist mal wieder mit einem Rätsel verbunden.“ Er griff nach dem Buch und öff-

nete die Seite über die Pflanze. „Komm schon, wir haben nicht ewig Zeit!“ Unge-

duldig stand Atlas dort und wartete auf das Rätsel, das sie zu der Antwort führen

sollte.

„Wo die Frau zum Sonnenaufgang zeigt, sollet ihr mit Wissen belohnt werden.

Wo das Buch dann steht, sollet ihr zum Süden gehen. Wo auch der Tag sich

seinem Ende nähert, sollet ihr fündig werden. Im Herzen des Waldes, so steht es

geschrieben. Doch ehe die Dämmerung eintrifft, ist es zu spät.“

Die Antwort auf das Rätsel war wohl näher, als sie gedacht hatten. Jetzt mussten

sie nur noch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. „Wir könnten Arnold-Herbert

Ziegenkutsch fragen, möglicherweise kann er uns mehr dazu sagen“, schlug Atlas

vor. Kurz darauf machten sie sich auf den Weg zu dem besagten Mann.

Bei dem guten Arnold angekommen, begrüßte er sie mal wieder mit offenen

Armen. „Lange nicht gesehen, ihr Landstreicher!“

Die humorvolle Bemerkung von Arnold ließ zwar zu wünschen übrig, brachte

aber ein Grinsen auf die Gesichter der Geschwister. „Eine ganz, ganz lange

Geschichte.“ Atlas klang erschöpft, was nach den Tagen in der Bibliothek mehr als

nur verständlich war. „Jedenfalls wollten wir fragen, ob du uns mit dem Rätsel helfen

kannst“, sagte Sage, bevor er ihm das Buch reichte.

„Bei Vollmond, im Herzen des Waldes. Vollmond ist heute Abend. Sobald die

Sonne untergeht, steigt er auf. Aber glaubt mir, in diesen Wald wollt ihr nicht gehen.

Kaum einer kehrt lebendig wieder. Man nennt ihn den verbotenen Wald.“ Man

konnte Arnold-Herbert Ziegenkutsch die Furcht ansehen.

„Na, das wird ja immer besser“, schnaufte Sage. „Erst Gnome, dann werde ich in

einem kleinen Raum eingesperrt und jetzt auch noch ein Gruselwald? Was noch?

Monster?“

Schweigen erfüllte den Raum.

„Mal was Neues in dieser langweiligen Stadt“, antwortete Atlas. „Der Wald

befindet sich hinter der Bibliothek, immer Richtung Süden, dort, wo das Mondlicht

das Herz des Walds trifft, dort findet ihr wonach ihr sucht. Na, dann gehen wir wohl

dahin, mal gucken, ob wir lebendig zurückkommen. Wer weiß, vielleicht sind wir ja

eine gute Speise für die Wald-Monster!“

„Atlas! Das ist nicht lustig!“

„Etwas lustig“, erwiderte diese. „Dich fressen sie bestimmt zuerst, denn ich kenn

mich in Wäldern aus, du würdest dich sofort verlaufen.“

„Das sehen wir ja dann, Brüderchen.“ Beide brachen in Gelächter aus, und sogar

Arnold konnte sein Lachen nicht zurückhalten.

*

So gesagt, so getan. Die Geschwister brachen am frühen Morgen des nächsten

Tages auf. Viel Gepäck trugen sie jedoch nicht mit sich, da sie nicht vorhatten, lange

zu bleiben.

Ihre Pläne wurden jedoch schnell von kleinen Wesen beeinträchtigt.

„Boah, schau mal, Sage“, schrie Atlas ein bisschen zu laut und zu grell, „die sehen ja

aus wie Menschen! Halt nur kleiner und hässlicher.“

Die kleinen Wesen, die sich als Gnome entpuppten, sahen sie empört an.

„Na hör mal her, Weib“, schrie eines der winzigen Schrumpelfigürchen noch

schriller, als Atlas es je gekonnt hätte, „wir sind keine Menschen! Wage es nicht,

uns noch einmal als dieses Ungeziefer zu betiteln! Wir sind die Gnomius-

Maximus-beta-Herfunkelus! Kurz, GMBH“, rümpfte er stolz die Nase.

„Aha. Und wie heißt du, mein Kleiner?“, fragte Atlas mit einer süßen Stimme.

„Max, und nenn mich nicht Kleiner, Weib!“ Max stach ihr mit einem Stock ins

Bein.

„Und du?“

„Max“, antwortete ein anderer. „Und du?“ Atlas wendete sich dem Gnom mit dem

weißen Bart zu. „Max.“

„Und du?!“, fragte die Schwester sichtlich verwirrt.

„Na Max, du blöde Gans!“

Sage wandte sich zu seiner großen Schwester.

„Die heißen hier alle Max. Frag mal, warum sie Gnomius-Maximus-beta-Her-

funkelus heißen!“, zischte Sage.

Blöde Gans – diesen Ausdruck würde sich der Bruder noch merken.

„Okay, Maxi-Schatzilein“, sagte Atlas ungeduldig. „Wir sind auf der Suche nach

einer Blüte.“

„Sieh dich um, Weib! Mach deine verkaterten Augen auf! Hier sind überall

Blüten!“, rief der grummlige Max.

„Wir sind auf der Suche nach der Appoloria-Blüte. Sie schaut ungefähr so aus.“

Atlas bedeutete ihrem Bruder, dass er doch bitte das Buch auf der richtigen Seite

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aufschlagen sollte. Hektisch kam er dem Befehl seiner Schwester nach.

„Oho, ihr Grünschnäbel seid also wirklich hier, um diese Blüte zu finden? Ich

muss schon sagen, ziemlich faszinierend, dass ihr Dummschwätzer es wirklich bis

hierhin geschafft habt.“

Sage antwortete nicht auf die anfänglichen Gemeinheiten und Beleidigungen.

Stattdessen fuhr er unbeeindruckt fort: „Könnt ihr uns helfen, diese Blüte zu

finden? Daneben steht ein Rätsel:

Wo die Frau zum Sonnenaufgang zeigt, sollet ihr mit Wissen belohnt werden. Wo das

Buch dann steht, sollet ihr zum Süden gehen. Wo auch der Tag sich seinem Ende nähert,

sollet ihr fündig werden. Im Herzen des Waldes, so steht es geschrieben. Doch ehe die Däm-

merung eintrifft, ist es zu spät.“

„Kommt drauf an“, meldete sich Max, einer der Gnome, der bisher noch nicht

gesprochen hatte. Was springt dabei für Max, Max, Max, Max und mich heraus?

Es muss schon was Ordentliches sein, ich muss schließlich meine Frau Max und

meine Kinder Max und Max über die Runden bringen.“ Missbilligend sah er die

Geschwister an. Atlas nahm etwas aus ihrer Tasche heraus. „Das hier“, sagte sie und

nahm die Flasche mit der rot schimmernden, süß riechenden Flüssigkeit heraus. Es

war Wein.

„Was machst du da?! Du kannst das doch nicht den Gnomen andrehen! Noch

nicht mal du kommst mit den Nebenwirkungen zurecht!“, zischte ihr Bruder.

„ Oho, was ist denn das?“

„Ein Getränk, damit deine Frau Max und deine Kinder Max und Max erträglicher

werden“, zwinkerte Atlas, bevor sie zu Sage herüber schielte. „Hilft übrigens auch bei

Brüdern.“

„Erträglicher?“, rief ein anderer Max verwundert. „Deal, nehmen wir!“

Die Gnome machten einen kleinen Handschlag und Lautruf untereinander. Es

ähnelte einem satanistischen Ritual.

„Wo auch der Tag sich seinem Ende nähert, sollet ihr fündig werden. Doch ehe die Däm-

merung eintrifft, ist es zu spät“, wiederholte ein anderer. „Der Westen ist damit gemeint.

Ihr müsst in den Westen! Kommt mit, wir zeigen es euch!“

Und schon wanderten die Gnome mit den verwirrten Geschwistern Richtung

Westen und sangen Lieder. Atlas ließ es sich nicht zweimal sagen und fing an, den

Gnomen die wunderbaren Lieder aus ihrem Heimatdorf vorzulallen. Würden die

Geschwister nicht so weit weg wohnen, könnte man meinen, Atlas hätte Freunde

gefunden.

Einige Stunden vergingen und Sage war schon voller Sorge, die Gnome würden

eigentlich gar nicht wissen, wo es lang geht. Doch kurz bevor er etwas erwidern

wollte, blieb die Truppe stehen und starrte auf einem Baum.

62

„Gerade noch rechtzeitig gekommen“, seufzte Max.

„Doch ehe die Dämmerung eintrifft, ist es zu spät“, wiederholte ein anderer. „Man

kann die Blüte nur vom Morgengrauen bis zu den letzten Sonnenstrahlen erha-

schen, solange sie an den Wurzeln wächst. Also solltet ihr zwei euch beeilen.“ So

gesagt, so getan.

Und schon waren die Geschwister dabei, die faszinierend aussehende Appoloria-

Blüte in ihrer pink-orangen Farbenpracht zu pflücken.

„Wir haben sie, Atlas“, rief Sage, „jetzt können wir Großvater endlich retten!“

„Ihr seid gar nicht mal so scheiße, wisst ihr das?“ Atlas flirtete mit einem schelmi-

schen Grinsen. „Atlas!“

„Was denn? Unter anderen Umständen könnte ich mir durchaus vorstellen,

meine Lieblinge mal in meine Schmiede einzuladen. Natürlich nach Feierabend“,

zwinkerte die Ältere. Sage entnahm die Appoloria-Blüte vorsichtig aus dem

Baumstamm.

„Kannst du alles gerne machen, wenn deine Schmiede noch steht, nachdem du

den buckligen Bernhard damit wochenlang alleingelassen hast.“

„So ungern ich das auch zugebe, leider hast du da einen verdammt wunden Punkt

erwischt.“ Atlas’ Miene verfinsterte sich, als sie Sage spielerisch gegen die Schulter

boxte. „Na gut, du Arsch. Lass uns auf Vaeneths Bauernhof zwei Pferde leihen und

dann nichts wie weg hier.“

„Leihen?“

„Leihen.“ Die Geschwister grinsten sich an. Beide wussten genau, was das zu

bedeuten hatte.

*

Eifrig und mit der Pflanze bewaffnet, eilten sie zurück zum Elternhaus. In der

Hoffnung, dass es noch nicht zu spät war. Ihre Eltern waren zu dieser Zeit in der

Dorf-Heilstätte, weshalb sie diese glücklicherweise nicht antreffen würden. Schnell

brauten sie die Blüten der Pflanze zu einem Tee und begaben sich zum Gemach ihres

Großvaters. Doch was sie dort antreffen sollten, war mehr als nur bedauerlich.

„Mutter? Vater? Ihr solltet doch bei der Arbeit sein, ist alles in Ordnung?“ Atlas

war nahe bei der Tür. Es war ein befremdliches Gefühl, wieder an diesem Ort zu

sein, einem Ort voller Erinnerungen an das, wovor sie weggelaufen war.

„Collei, dein, euer Großvater“, ihre Blicke wendeten sich zum Parkett, als man

das Brechen ihrer Stimme laut und deutlich hören konnte. Kleine Wassertropfen

trafen den kalten Parkettboden und die Stimmung des Raumes wurde eng und

bedrückend.

63

„Nein das kann nicht sein!“ Auch bei ihm stiegen die Tränen in die Augen, als

er an das Bett seines Großvaters trat. Er wollte es nicht glauben, es konnte nicht

wahr sein, sie waren doch extra weit gereist, um ihn zu retten, und nun war alles

umsonst? Sein Großvater schien friedvoll und sorgenlos, wenigstens war er nicht

mit Schmerzen aus dem Leben gerissen worden, schien Sage sich zumindest einzu-

reden. Er fiel auf seine Knie, nun nicht mehr fähig, seine Tränen zurückzuhalten.

Atlas war ebenso sprachlos, unfähig, etwas anderes zu tun, als wortlos auf den

Boden zu gucken. Auch wenn sie ihre Familie verabscheute, konnte sie nicht

leugnen, dass der Anblick ihrer weinenden Eltern, ebenso die Tränen ihres kleinen

Bruders beim Anblick ihres toten Großvaters ihrem Herzen kleine Stiche versetzte.

Atlas senkte langsam ihren Blick und nahm ihren Hut als Zeichen ihrer Trauer ab.

„Entschuldigung, Großvater“, sprach sie unter leisen Tränen. Das etwas zu hoch

gewachsene Mädchen erinnerte sich in einer melancholischen Stimmung an ihren

Großvater. Er war es, der ihr den Zweitnamen Gwendolyn verliehen hatte. Er war

auch der Einzige, bei dem Atlas es nicht als Strafe ansah, wenn sie mit ihrem eigent-

lich verhassten Zweitnamen angesprochen wurde.

Tief saßen die Erinnerungen an die Abende, als Atlas als junges Mädchen her-

anwuchs, und Großvater ihr beibrachte, Alkohol zu trinken. Es war ein kleines

Geheimnis zwischen den beiden. Ein Geheimnis, das Atlas mit ins Grab nehmen

wollte, Großvater ihr wohl aber zuvorgekommen war. Oft saßen sie am Lagerfeuer

in der Nähe der kleinen Lichtung und erzählten sich die eigenartigsten Geschichten.

Einige beruhten auf wahren Begebenheiten, andere auf einer ernsten Basis. War es

zu kalt für die frische abendliche Luft, verschanzten sich beide am Kamin des alten

kleinen Bungalows. Großvater hatte nicht viel, aber ein gutes Herz und eine lebhafte

Seele. Zur Weihnachtszeit gab es neben dem Hochprozentigen auch guten Glüh-

wein. Großvater war der Einzige, der Atlas so annahm, wie sie war. Weil beide mehr

als wortkarg waren, verstanden sie sich meist, ohne zu reden. Obwohl er es nie sagte,

akzeptierte er seine Enkelin für die Schmiedin und Person, als die sie heranwuchs.

Und dafür war ihm seine Enkelin unfassbar dankbar.

Sage auf der anderen Seite saß aus Trauer zitternd auf dem Boden des Gemaches.

„Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte. Es tut mir leid“, flüsterte er unter

Tränen.

Sein Großvater war mehr ein Vater für ihn als der richtige, nachdem seine

Schwester fort war. Er lehrte ihn alles, was er nun wusste. Die Leidenschaft für

Kräuter, Heilkunde und nun auch den Wunsch, Menschen zu retten und ihnen zu

helfen, da er es bei seinem Großvater nicht mehr konnte. Dies würde nicht nochmal

vorkommen, er würde es nicht mehr zulassen, jemanden zu verlieren. Er würde sein

64

Handwerk fortsetzen und ihn für alle Zeiten in Erinnerung halten. Er konnte nicht

glauben, dass derjenige, der ihm, als er noch ein kleiner Bube war, seine Bücher

vorgelesen hatte und ihm die Kunst der Kräuter lehrte, derjenige, der ihn zu dem

Mann, der er jetzt war, erzogen hatte, nun aus dem Leben geschieden war.

Er schwor zu sich selbst, dass er dieses Handwerk fortführen würde, so wie es sein

Großvater immer für ihn gewollt hatte.

„Atlas?“, flüsterte er leise in Tränen, „lass uns gehen.“

„Gehen? Wohin?“

„Zu dem Ort, an dem wir frei sein werden, lass uns unser Leben dort weiterführen

und neu anfangen.“

„Die ausgeliehenen Pferde zurückgeben?“

„Genau.“

Ein Grinsen breitete sich auf den Gesichtern der beiden aus.

„Meinst du, der bucklige Bernhard wird gut auf die Werkstatt achtgeben?“

„Erinnere mich nicht dran, sonst überlege ich es mir anders und bleibe hier.“

Epilog

Sage verbrachte Stunden, Tage sogar Monate damit, seine Heilstätte aufzubauen.

Mit der Hilfe seiner begabten Schmiedin von Schwester hatte er es schnell geschafft,

seine kleine Praxis aufzubauen.

‚Thias Heilstätte‘

Mit einem großen Lächeln stand der junge Bursche vor seiner Praxis, die er nach

seinem Großvater und Lehrmeisters Matthias Albert Alric benannt hatte. Hier

würde er als Dorfarzt mit seiner Kräuterheilkunde den Menschen helfen, die sich

nicht selbst helfen konnten und das Erbe seines Großvaters fortführen. Natürlich

hatte Herr Ziegenkutsch auch beim Aufbau der Praxis geholfen und die Gnome

hatten versprochen, keine Kräuter vor ihm zu verstecken. Naja, manchmal fanden

sie es lustig, ihm Rätsel zu geben, um die Kräuter zu finden. Ebenso viel Zeit ver-

brachte er in der Bibliothek und dem kleinen Raum, in dem er seine Ruhe finden

konnte. Aber das Beste daran war, dass er nun mehr Zeit mit seiner Schwester ver-

brachte. Manchmal nach Feierabend tranken sie gemeinsam ein Glas Rum und

genossen ihr neues Leben dort in Vaeneth. Den Rum, den Sage mit seinem Geld

bezahlen musste, da er mehr verdiente als Atlas.

Streiten taten sie natürlich trotzdem, denn das würde sich wahrscheinlich nie

ändern.

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Atlas für ihren Teil saß nächtelang wach in ihrer Werkstatt, um vergangene Arbeit

aufzuholen. Doch der Gedanke, ihren Bruder wieder gehen zu lassen, traf sie tiefer

in der Brust, als sie sich das erste Mal trennten. Schon bald plagte sie eine kleine,

aber sichere Existenzkrise. Aber genau durch diese Krise wusste sie, was zu tun war.

Es geschah alles krumm und heimlich, so, wie man es von der jungen Frau gewohnt

war. Die wenigen Mitarbeiter wurden für ein letztes Abendmahl mit anschließender,

großer Fete zusammengetrommelt und das letzte Beisammensein genossen.

Es fiel Atlas schwer, ihre selbst erbaute Schmiede zurückzulassen und sowohl

ihre teuren Materialien wie die treuen Kunden an den buckligen Bernhard zu über-

geben, der das Angebot des Filialleiters mit Kusshand annahm.

Atlas half noch selbst dabei, das hölzerne Firmenschild von ‚Atlas’ Abenteuer-

schmiede‘ zu ‚Bernhards Bude‘ umzuändern. Ein paar Tränchen von Atlas’ Auge

entwichen dann doch, als ihr versprochen wurde, dass der Name ‚Atlas‘ im Gemein-

schaftsraum eingraviert wird.

Weil Atlas so gut im Geheimnisbewahren war, merkte ihr Bruder von alledem

nichts.

Erst, als Sage am frühen Novembermorgen vor Atlas’ Schmiede stand und auf

eine nüchterne und vollgepackte große Schwester antraf, wurde ihm so Einiges

klar.

„Du glaubst doch wirklich nicht, dass ich es nochmal verpassen werde, meinen

kleinen Bruder aufwachsen zu sehen, oder?“, fragte die Ältere mit einem schelmi-

schen Grinsen.

Das Geschwisterpaar erbaute sich bald auf einer Lichtung nahe den Eingangs-

toren von Vaeneth zwei Häuser. Sie wollten beide nicht mehr voneinander getrennt

sein. Auch, wenn oft noch eine dritte Person mit in der kleinen Runde war. Ziegen-

kutschs Enkelin Camille fing nämlich an, sich verdächtig gut mit der Weißhaarigen

zu verstehen. Und schon bald teilten die beiden sich Atlas’ kleines Häuschen.

Berichte an den Rat hatten sie nach all dem übrigens auch nie wieder geschickt.

VOLKESLAND

Aufbruch ins Unbekannte

Eine Gemeinschaftsproduktion von Markus Heitz und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf unter Leitung von Renate Zimmermann

Illustrationen: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner

Herausgeber: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V. und Renate Zimmermann

Webseite von Markus Heitz


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