VOLKESLAND

Vor mir türmten sich Gebäude aus diesem weißen Stein auf


11.02.24 Auch im vergangenen Jahr schrieben die Mitglieder der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek einen Roman zusammen. Und wie schon im vergangenen Jahr wird es hier an dieser Stelle jeden Sonntag daraus eine Fortsetzungsfolge geben. Heute zu lesen von Cassy das vierte Kapitel ALLABASTYE:


Viertes Kapitel

COSMIA UND VANDA

„Du kannst nicht gehen, Vanda.“ Meine Mutter hatte die Hände in die Hüften

gestellt und sah mich ernst an.

„Mutter, wie oft hatten wir die Diskussion schon? Ich bin alt genug. Wenn ich

Ritter werden kann, schaffe ich das doch mit Leichtigkeit.“ Die Erinnerung an

beinahe dasselbe Gespräch vor einigen Jahren ließ mich schmunzeln, was meine

Mutter überhaupt nicht witzig fand.

„Wie willst du überhaupt dahin kommen? Wir können uns nicht mal einen Esel

leisten.“

„Dann laufe ich eben, ist doch egal. Freust du dich denn gar nicht für mich?

Immer sagst du nur, wie sehr ich hier fehlen werde. Aber es ist Zeit für mein eigenes

Leben. Ich wünsche mir, dass du das akzeptierst. Du bist schrecklich alt geworden.“

Damit hatte ich sie geknackt, auch wenn sie es nie zugeben würde. Ich war mir wohl

bewusst, wie sehr sie darunter leiden musste, ihr kleinstes Küken das Nest verlassen

zu sehen. Andererseits hatte ich nie vorgehabt, mich dem wohlbehüteten Leben

meiner Familie anzuschließen. Meine ältesten Geschwister waren Bauern, Hand-

werker oder Hausfrauen, hatten bereits früh geehelicht und größtenteils schon

Kinder. Aber das passte doch, da hatte meine Mutter jemanden zu betutteln.



Illustration: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner

.

Ich war schon immer anders als der Rest der Familie. Mein Vater hatte für mich

eine Handwerkerlehre vorgesehen, doch ich wollte der Gesellschaft auf anderem

Wege dienlich sein. Ich ging an den Hof und wurde Ritter. Seit dem Sturz der

Königsfamilie hielt ich mich wieder überwiegend im Elternhaus auf, da noch nicht

entschieden wurde, was aus dem Heer werden sollte. Ich war also bereit für ein

neues, für ein richtiges Abenteuer.

Am Abend vor Beginn der großen Reise packte ich meine sieben Sachen. Allzu

viel konnte ich nicht mitnehmen, immerhin hatte ich keinen Packesel dabei. Aber

selbst, wenn es mir an etwas mangeln sollte, so hatte ich es bis nach Hause nicht

weit. Der Rat hatte mir ein direktes Nachbarland zugeteilt und nur in 80 Stunden

Fußmarsch sollte ich die Grenze überquert haben. Das war im Vergleich zu anderen

Märschen, die ich schon bestritten hatte, eine sanfte Tour.

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Als ich alles eingepackt hatte, Proviant, Feder, Tinte, Pergament, blickte ich

mich noch einmal in meinem Zimmer um. Lange Zeit hatte ich es mir mit einigen

Geschwistern teilen müssen, doch seit ungefähr zwei Jahren war es nun meins. Das

Zimmer würde wieder für eine Weile leer stehen. Doch das würde mich nicht von

der Reise abhalten.

Ich setzte mich in den Sessel unterm Fenster und badete in dem hereinfallenden

Mondlicht, als es plötzlich hinter mir klopfte. Als ich mich umdrehte, saß draußen

auf dem Fenstersims eine Taube, die aufgeregt ihren Kopf hin und her wiegte. Sie

sah ungewöhnlich aus. Ihr Körper war nicht wie üblich weiß, sondern braun, nur die

Flügel waren hell. An ihrem linken Bein hing ein zusammengerolltes Schriftstück.

Ich öffnete das Fenster und ließ sie herein. Sie hüpfte über den Fensterrahmen und

landete schließlich auf der Lehne des Sessels. Brav streckte sie mir ihr Bein hin,

damit ich den Brief losbinden und lesen konnte.

Großer Abenteurer,

hiermit erhältst du deine Brieftaube. Erstatte Bericht, so wie es dir vorgegeben ist.

Der Rat

Ich war tatsächlich vorher schon darüber informiert worden, dass ich alle zwei

Monate Bericht erstatten soll. Das fand ich zugegeben ziemlich eigenartig, da mein

Erkundungsland laut Karte ziemlich klein und nicht besonders weit weg war. Aber

wieso nicht, Urlaub in einem anderen Land ist sicherlich ganz schön. Zumindest

habe ich das aus Erzählungen meiner Familie gehört. Als man noch reisen durfte.

Oder aus der Zeit, als meine Ur-Ur-Ur-Ur-Vorfahren noch nicht hier lebten. Da gab

es viele spannende Geschichten drüber. Ich habe sogar mal von einem Tagebuch

gehört, was einer dieser Ur-Vorfahren geschrieben haben soll. Ob es das wirklich

gab, war fraglich, da früher so gut wie niemand schreiben konnte. Seit vielen Gene-

rationen wird es dennoch in unserer Familie gelehrt und ich werde eines Tages die

Pflicht haben, es meinen Kindern beizubringen.

Den Zettel faltete ich zusammen und steckte ihn zu meinen anderen Sachen in

den Packsack. Die Taube beobachtete mich dabei, immer den Kopf schräg gelegt,

als würde sie mich etwas fragen wollen. Was genau, verstand ich allerdings nicht.

„Hast du einen Namen?“, fragte ich deshalb.

Nichts. Sie starrte mich nur weiter an.

„Dann muss ich mir wohl einen ausdenken.“

Mein Blick glitt aus dem Fenster in den Himmel. Just in diesem Moment flog

eine Sternschnuppe durch mein Sichtfeld, und nachdem ich mir gewünscht hatte,

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dass die Reise gut und weitestgehend gefahrlos verlief, hatte ich auch schon einen

Namen: „Cosmia. Ab heute hörst du auf den Namen Cosmia.“

Wieder keine Antwort. Vielleicht würde mir ein bisschen Schlaf dabei helfen,

nicht mehr zu erwarten, dass eine Taube mir antworten würde. Ich ließ sie einfach

auf dem Sessel sitzen und legte mich ins Bett. Meine Rüstung war poliert, meine

Lanze gespitzt und ich so aufgeregt, dass ich mich einige Male hin und her wälzen

musste, bevor der Schlaf endlich zu mir fand.

In aller Herrgottsfrühe war ich aufgestanden, nicht nur, um mich meiner Mutter

zu entziehen, sondern auch, weil ich es vor Spannung gar nicht mehr aushielt. Ich

machte mich direkt auf den Weg.

Ich hatte eine große Karte dabei, die allerdings bis auf eine kleine Ecke voll-

kommen leer war. Diese Ecke war der Teil von Volkesland, der die Grenze zu dem

mysteriösen, unergründeten Land bildete, welches in Kürze vor mir liegen würde.

Um mir die Zeit zu vertreiben, trällerte ich ein Lied vor mich hin, welches ein Barde

für die Ritterschaft gesungen hatte. Es handelte sich dabei um eine Art Motivations-

lied, und heute motivierte es mich noch mehr, als ich es eh schon war.

Endlich! Ich setzte meinen Fuß über die Grenze. Ein großes Stück Mauer, die

einst Volkesland von den Nachbarländern abgeschirmt hatte, war herausgerissen

worden. Dahinter drängte sich Baum an Baum, die Erde war verschlungen von zart-

grünem Gras. Auch mein zweiter Fuß berührte nun den ausländischen Boden. Um

mich herum herrschte Stille. Kein Wind war zu spüren, kein Lebewesen zu hören,

einfach Stille. Die Sonne küsste die Baumkronen und es wurde Zeit, mein Lager

aufzuschlagen, der Sicherheit halber erstmal in der Nähe der Grenze. Ich freute

mich darauf, nach diesem langen Weg endlich meine Füße ausruhen zu können.

Zufrieden legte ich mich unter mein Zelt, welches ich gerade aufgebaut hatte.

Das Wetter war gut, kein Regen zu erwarten. So wie ich es gesehen hatte, waren es

nur leichte Schleierwolken, die die Sonne verdeckten. Ich wollte so gerne schlafen,

aber wieder war es meine Neugierde, die das nicht zulassen wollte. Lieber gleich

alles erkunden, lieber gleich Berichte schreiben, lieber gleich…

Aber ich war so müde, dass ich mich auf die Seite drehte und einfach nicht wider-

stehen konnte. Die Reise hierher war müßig gewesen, hügelig. Und schon das

Laufen hatte ich des lästigen Schlafens wegen vernachlässigen müssen. Nun stelle

man sich vor, ich trug ja meine Rüstung! Auch jetzt. Das hatte ich bei meiner Aus-

bildung ganz schnell gelernt: Sei immer auf der Hut und schütze dich gut! Und so

tat ich es auch hier. Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, fühlte ich mich orientierungslos.

Über mir war alles grün, es gab keine Umgebungsgeräusche, nicht mal Wind. Nur

die kleine Taube neben mir, die nur dasaß und mich beobachtete, gab mir einen

Hinweis auf meine Mission. Dieses Land wollte erkundet werden!

In den ersten Tagen verschaffte ich mir einen groben Überblick. An einen dicken,

sehr alten Baum war ein Schild genagelt, auf dem in verschnörkelter Schrift ‚Allab-

astye‘ stand. Ich vermutete das als Namen des Landes. Mein Lager hatte ich ganz

oben auf einem der zwei Berge aufgeschlagen. Nachdem ich von Tag zu Tag auf

immer höhere Bäume kletterte (ja, das ging erstaunlich gut mit der Rüstung), ver-

stand ich auch, wie das Land aufgebaut war. Durch die Größe schaffte ich es sogar,

zumindest vermutungsweise, das ganze Gebiet zu überblicken. Zwei hohe Berge

mit gebietsweisen, weißen Flecken. Die Berge waren beide im unteren Teil sehr

steil, wurden nach oben hin aber immer flacher. Ich hatte glücklicherweise einen

kleinen Schleichpfad gefunden, sehr gut versteckt hinter einem dichten Busch und

einer ausgelösten Ork-Falle ohne Ork. Dieser Pfad wurde schnell zu einer Treppe

mit hohen Stufen, die aussah, als hätte sie jemand vor vielen Jahren selbst gebud-

delt und geformt. Merkwürdig. Bisher hatte ich noch keine Lebewesen entdeckt.

Gehört hatte ich sie mittlerweile, in der Nacht hatte irgendwas geheult, vielleicht

ein Werwolf ?

Zwischen den Bergen gab es keine Verbindung und ich konnte mir noch nicht

vorstellen, wie ich da rüberkommen sollte. Vermutlich klettern und hangeln, entlang

an den ausladenden Wurzeln der dort wachsenden Bäume. Im Tal lag ein Fluss, viel-

leicht vielmehr ein Bach, vielleicht zwei Meter breit. Den Ursprung oder das Ende

dessen war nicht erkennbar, aber bestimmt floss er über die Ländergrenze hinaus.

Was die anderen Reisenden wohl so gerade trieben oder erlebten? Von Zeit zu Zeit

wünschte ich mir, ich hätte eine Begleitung mitgenommen. Eine sprechende, nicht

so wie Cosmia, die zu meiner wichtigsten Bezugstaube geworden war. Nur antwor-

tete sie eben nicht, was schade war. Wäre ich ein Magier oder auch nur irgendwie

magisch begabt, hätte ich sie bestimmt zum Sprechen gebracht. Manchmal legte sie

ihren Kopf schief oder hatte einen ganz starken Ausdruck in den Augen, als würde

sie gerne etwas sagen wollen. Dann käme bestimmt sowas raus wie „Sei kein Idiot,

dieser Baum ist eine Nummer zu hoch für dich“ oder „Für diesen Job werde ich zu

wenig bezahlt“, so wie man sich das eben vorstellt, könnte das Haustier auf einmal

sprechen.

Heute wollte ich das erste Mal so richtig etwas erkunden und herausfinden, was

diese weißen Flecken waren. Dazu ging ich einfach stur nach Westen.

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Nach ungefähr einer halben Meile sah ich im Dickicht etwas schimmern und ging

näher ran. Vor mir stand eine Blume, einen Meter groß, mit einem fleischigen Stiel.

Sie duftete wie der schönste Duft, den ich bis dahin hatte riechen dürfen, sie zog

mich förmlich an. Ihre Blätter waren dunkelviolett und weit geöffnet, wie ein Maul,

das seine Beute bald fangen und verspeisen würde. Darin lag etwas, das wie eine

Kugel aussah, gefüllt mit einer gold-fluoreszierenden Flüssigkeit. Neugierig streckte

ich meinen Finger danach aus. Als ich sie berührte, schnappte nicht etwa das Maul

zu, nein, die Kugel platzte und verteilte ihren Inhalt über meinen Helm, der glückli-

cherweise mein Gesicht bedeckte und meinen Brustpanzer. Jetzt roch es nicht mehr

so gut, ziemlich eklig sogar und ich nahm wieder einige Schritte Abstand. Es klirrte

leise und ich geriet ins Wanken, konnte mich aber auf den Beinen halten. Erschro-

cken drehte ich mich um, nur um eine zweite dieser Pflanze zu entdecken, die sich

in meinem Rückenpanzer verbissen hatte. So fingen diese Blumen also ihre Beute.

Ich zerrte an dem Stiel und riss die Blume ab, die sich an meiner Rüstung sicher

die Zähne ausgebissen hatte. Zurück blieben seichte Furchen in meiner Rüstung.

Als ich meinen Weg fortsetzte, sah ich immer mehr dieser Blumen, doch hielt

mich weit fern von ihnen. Irgendwann säumten sie den Wegesrand, als würden sie

mir den Weg weisen wollen. Aber wohin nur? Zu den weißen Flecken? Oder zu

gefährlicheren Blumen? Papperlapapp, ich war doch ein Ritter! Und Ritter hatten

vor nichts Angst, so wie auch ich vor nichts Angst hatte und mich freiwillig hierfür

gemeldet hatte. Wieder schweiften meine Gedanken zu den anderen Reisenden

und welcher Gefahr sich diese wohl aussetzen müssten. So ganz ohne Rüstung und

ohne Ausbildung.

Gedankenverloren stieß ich mir den Fuß an einem herumliegenden Stein. Es

schepperte leise, aber mein Fuß blieb natürlich heil. Ich sah mir den Stein näher

an, er leuchtete weiß. Dann sah ich auf und traute meinen Augen kaum: Vor mir

türmten sich Gebäude aus eben diesem weißen Stein auf. Manche waren klein, ein-

stöckig, aber manche waren auch größer. Sie hatten allesamt zwar Fenster, aber keine

Scheiben und keine Türen, nur Öffnungen im Stein. Ich betrat das nahestehende

Gebäude. Es gab keinen Fußboden, nur Gras und noch mehr bunte, große Blumen.

Mitten im Raum stand eine Marmortreppe, die nach oben führte. Langsam betrat

ich sie und der Stein war wie zu erwarten stark genug, um mich zu halten. Es gab

kein Geländer und so tastete ich mich langsam voran. Irgendwo knisterte es, viel-

leicht war da oben jemand. Und ich Idiot hatte gar keine Waffe dabei! Jetzt hieß es

Augen zu und durch und als ich oben ankam, war da niemand, alles leer. Ein großer

Raum, so wie unten, nur dieses Mal mit einem Boden, aber ohne Dach.

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Später als ich durch das kleine Dörfchen lief, konnte ich nicht einordnen, ob es ver-

lassen war, oder die Wesen, die hier gelebt hatten, einfach sehr minimalistisch gelebt

hatten. Denn eines war klar: Hier war niemand mehr, zumindest lebte hier niemand.

Die Gebäude sahen von innen größtenteils gleich aus, manche hatten mehr Wände

als andere. In einem Haus hatte ich einen überraschenden Fund gemacht: Ein altes,

vergessenes, in Leder eingebundenes Buch. Ich nahm es erstmal an mich. Am Ende

des Weges thronte ein Turm, der alle Häuser überragte, dennoch nicht riesig war.

In seinem Inneren befand sich eine Wendeltreppe und mir war klar, dass dies hier

ein Ausguck gewesen sein muss, vielleicht auch ein Stützpunkt für Bogenschützen.

Tatsächlich fand ich oben einen alten Bogen und eine weitreichende Aussicht, dem

Fluss entgegen. Hinter mir wuchs ein Baum den Turm hoch und nahm einiges an

Platz ein, woraus ich schlussfolgerte, dass hier lange keiner mehr die Äste gestutzt

hatte. Cosmia ließ sich gleich auf einem der Äste nieder. Auch ich suchte mir einen

kleinen Vorsprung, auf dem ich sitzen konnte und begann, meinen ersten Bericht

zu schreiben.

„Okay Cosmia, du musst mir jetzt ganz genau zuhören.“ Ich blickte die leicht

ergraute Taube, die vor mir auf einem Ast hockte, gebannt an. „Du hast zwar

federnah miterlebt, was wir die letzten Tage erforscht haben, aber ich weiß, du bist

manchmal etwas theatralisch. Deswegen teile dem Rat bitte folgendes mit.“

Cosima drehte ihren Kopf, als ich knisternd meine Pergamentrolle ausrollte.

„Ruinen aus weißem Marmor, stechende Düfte von irren aussehenden Pflanzen,

hohe Bäume, bisher keinerlei Kreaturen gesichtet. Raschelnde Blätter bei Wind-

stille, leises Heulen in der Nacht. Meine Rüstung quietscht, ich bräuchte langsam

eine neue. Ein Pferd wäre auch nicht schlecht.“

Tief einatmend ließ ich das Pergament durch meine Finger gleiten. „Das Land ist

klein und besteht aus zwei Bergen, die durch ein Tal getrennt sind. Durch das Tal

fließt ein Fluss. Ich weiß nicht, wo er endet. Der Übergang zum anderen Teil des

Landes scheint unmöglich, zu steil. Wir müssen noch einen Weg finden, da rüber-

zukommen. Melde mich zum nächsten Termin mit neuen Infos.“

Schweren Herzens band ich ihr die Rolle ans Bein und befahl ihr, diese zum Rat

zu bringen. Sie warf mir noch einen Blick zu und erhob sich dann in die Lüfte. Ich

winkte ihr kurz nach und war dann ganz allein. Mein Blick entschied sich dazu, über

das Tal zu schweifen und mich somit etwas abzulenken. Der Fluss. ich musste als

nächstes zum Fluss! Und danach musste ich es irgendwie hinüber zu dem anderen

Berg schaffen, denn auch dort zeigten sich die weißen Flecken, die, wie ich jetzt

vermuten konnte, auch ein Dorf sein mussten. Vielleicht ja sogar mit Bewohnern.

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In der Ferne hörte ich ein leises Wimmern, dann ein Platschen. Es wurde langsam

dunkel.

Die nächsten Wochen wurde dadurch verschlungen, dass ich den gesamten Berg

von oben nach unten durchkämmte, doch bis auf das kleine Dorf hatte es bisher nur

Wald gegeben. Vielleicht lag das an der Nähe zu Volkesland und dass die Bewohner,

wenn es denn noch irgendwo welche gab, sich davon fernhalten wollten. Nun, eine

hilfreiche Sache hatte ich doch gefunden und ich stand genau vor ihr: Eine Hänge-

brücke. Schmal und fragil sah sie aus, aber benutzbar. Cosmia sah mich wieder mit

diesem Blick an, der so etwas bedeutete wie: „Willst du das wirklich wagen?“ Und

ja, das wollte ich, nein, musste ich sogar. Das war meine Pflicht als edler Ritter. Doch

die erste Planke zerbrach direkt und ich sprang wieder zurück auf das feste Land.

Vielleicht war die Brücke doch keine gute Idee.

Bisher hatte ich auf dieser Landesseite keinen Weg hinab zum Fluss gefunden

und ihn deshalb auf der anderen Seite vermutet. Jetzt saß ich auf einem Ast und ver-

suchte, mir noch einmal ein Bild von der Umgebung zu machen. Mittlerweile war

ich müde geworden vom andauernden Herumlaufen und Nichts-Finden. Das Dorf

vor ein paar Wochen war das erste und letzte Erfolgserlebnis geblieben. Die Brücke

war unbrauchbar. Als ich zum gefühlt hundertsten Mal meine Zeltplane aufschlug,

fiel mir das Buch in die Hände. Bisher hatte ich es nicht aufgeschlagen, nein, sogar

in meinem Beutel vergessen. Aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich

wissen wollte, was da drinstand. Heute würde ich ohnehin keinen Schritt mehr

gehen.

„Forschungstagebuch Dr. Gesine Schnabel – Tag 108 (30.08.2023): Nach jetzigem

Standpunkt muss Zeitreise möglich sein. Wir haben noch keine Beweise und noch kein ein-

ziger Versuch hat geklappt, aber ich min mir ganz sicher. Die Moleküle im Körper haben

diese (meiner Meinung nach) vielversprechende Struktur. Wenn Prof. Dr. Bob Madley

und ich nicht bald etwas vorlegen, wird unser Projekt eingestampft. Gezeichnet: Dr. Gesine

Schnabel, Stempel der Humboldt-Universität zu Berlin.“

Ich gähnte. Zeitreise, was für ein Märchen! Die Seiten vor der 108 waren heraus-

gerissen worden, ebenso viele Seiten in der Mitte und am Ende. Vielleicht standen

dort Dinge drauf, die würdig gewesen waren, sie mitzunehmen und nicht wie den

Rest des Buches zurückzulassen. Berlin – ob das eine Person war? Vielleicht eine

ranghohe, eine Königin oder ein König. Oder der Name einer Institution oder

einer Stadt? Erst dann fiel mir auf, wie merkwürdig es war, dass es in einer Sprache

geschrieben war, die ich einwandfrei verstand! Und dass Frau Doktor den gleichen

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Vornamen wie meine Mutter trug. Seltsame Zufälle. Ich schloss daraus, dass die

Landessprache wohl auch dieselbe sein musste, wie die, die wir zuhause in Volkes-

land sprachen. Ich hoffte darauf, irgendwann mal jemanden zu treffen und diese

Sprache nicht schon verlernt zu haben. Aber wie würden die Einheimischen auf

mich reagieren? Wussten sie, dass Volkesland ihnen nicht länger feindlich gesinnt

war? Und was für Wesen lebten hier wohl? Auch bunt gemischt, so wie zuhause?

Ich suchte lange nach einer Lösung, wie ich es anstellen sollte, nun endlich

zum Fluss zu kommen und kam nicht drauf. Es blieb keine andere Lösung als die

Brücke. Ich informierte Cosmia darüber, die natürlich nicht begeistert war. Ich

musste sie ignorieren und am nächsten Morgen stand ich wieder an der Brücke, wo

nun die erste Planke fehlte, vielleicht war ja nur diese morsch gewesen? Ich stellte

mich also auf die zweite, die tatsächlich hielt! Langsam ging ich voran und testete

erstmal jede Planke. Einige musste ich überspringen, aber am Ende schaffte ich es

bis nach drüben. Nur noch die letzte Planke… knacks, sie zerbrach unter meinen

Füßen und ich konnte das Geländer nicht mehr rechtzeitig greifen. Der Boden

kam schnell, dafür rollte ich in einem Wahnsinnstempo den Abhang hinab. Dank

meiner Rüstung zog ich mir dabei nur ein paar Beulen zu. Anschließend landete

ich im Fluss.

Es hätten Sekunden, Stunden oder Tage sein können, die ich im Wasser verbracht

hatte. Die Rüstung war so schwer und ich glaube, immer weiter abzusinken. Wasser

lief in meine Nase, in meine Ohren und meinen Mund, Jetzt war´s vorbei mit mir.

Da begann jemand an mir zu ziehen und das Licht kam näher, Oma, wir werden uns

wiedersehen! Ich musste husten. Dann gingen meine Augen wieder auf, trotzdem

blieb alles schwarz.

„Ein Mensch!“ fiepte eine hohe Stimme knapp neben meinem Ohr, als mir der

Helm abgenommen wurde. Tageslicht berührte meine Netzhaut und ich blickte in

den Himmel, gesäumt von hohen Bäumen. Mein Körper war nicht nur kalt, son-

dern auch klitschnass.

„Das erklärt einiges“, grummelte jemand anderes.

„Sei doch nicht so Vater, der Mensch braucht Hilfe!“

Links von mir war der Fluss, aus dessen Oberfläche ein Oberkörper hervorbrach.

Und ein Kopf mit einem netten Gesicht und großen Augen. Ein Meermädchen.

Sonst sah ich keinen. „Wo bin ich?“, fragte ich noch etwas benebelt.

„Am Flussbett. Du bist auf einmal einfach ins Wasser gefallen. Wusch, einfach

so!“

„Und wer bist du?“

Ich fühlte mich wieder klarer im Kopf und wollte diese Gelegenheit nutzen, um

etwas über dieses Land herauszufinden. „Und lebt hier sonst noch wer?“

„Ja, also …“, begann sie, wurde jedoch von der anderen Stimme unterbrochen:

„Lydia, hör auf, dem Menschen Schwachsinn zu erzählen und hilf mir lieber bei

den Vorbereitungen für das Fest morgen.“ Lydia nickte mir entschuldigend zu und

tauchte dann ab.

Ich versuchte mich am Aufstehen, um mich ein paar Meter weiter in die Böschung

zurückzuziehen. Dort fand ich auch meinen Beutel wieder, der glücklicherweise

nicht ins Wasser gefallen war. Und Cosmia, deren Blick ich bewusst mied. „Habe

ich es dir doch gesagt!“, wollte sie mir sicher sagen.

Ich pellte mir nach und nach die Rüstung vom Leib. Sie und ich mussten unbe-

dingt schnell trocknen, damit ich mit meiner Mission fortfahren konnte. Im Hinter-

grund erklang ein Kichern und Zischen, und ich konnte viele Meermenschen im

Fluss an mir vorbeiziehen sehen. Hier in meinem kleinen Versteck. Die Rüstung

musste so schnell wie möglich wieder an, wenn ich schon keine Waffe hatte, um

mich zu verteidigen. Da fiel mir die Pergamentrolle ins Auge.

„Nun ist es schon wieder soweit, der zweite Bericht muss von dir geliefert werden,

Cosmia.“ Ich nickte meiner Taube zu. „Fassen wir nochmal zusammen, was in der

letzten Zeit geschehen ist.“ Ich rollte, um noch einmal alles auf seine Korrektheit zu

überprüfen, die Pergamentrolle aus.

„Bin den Abhang runtergestürzt, aber alles okay, lebe noch. Bin quasi runtergerollt.

Anschließend in den Fluss gefallen. Ein Meermensch beschwert sich, dass ich ihn

angerempelt hätte und will mir folglich keine Informationen über das Land geben.

Er war nicht der einzige Meermensch, den ich gesehen habe. Hier im Fluss sind

viele in einem unsagbaren Tempo an mir vorbeigerauscht. Meeresmensch-typi-

sches Kichern. Ich habe gehört, dass sie sich auf ein Frühlingsfest vorbereiten, und

nehme mir vor, das zu beobachten. Aber mit einer Rüstung kann man sich schwer

leise und unauffällig verstecken. Im nächsten Bericht mehr dazu. Am Horizont

thront eine schmale Hängebrücke. Sie führt auf die andere Seite des Landes. Muss

mir überlegen, wie ich diesen Abhang wieder hochkomme, um auch den letzten

Winkel dieses überschaubaren Landes zu erkunden.“

Vielleicht musste meine Rüstung noch so lange ausbleiben, bis das Fest vorbei

war, damit ich sie ungestört beobachten konnte. Bis morgen. Wie spät es wohl war?

Von hier aus konnte ich die Sonne nicht sehen. Cosmia war nun auch wieder fort

und ich lehnte mich an eine herausragende Wurzel. Die Hälfte des Landes hatte ich

nun schon erkundet, blieb nur noch der zweite Berg, wovon ich noch nicht wusste,

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wie ich hochkommen sollte. Mein Kopf puckerte leicht und ich schloss meine

Augen. Nur noch fünf Minuten…

Geweckt wurde ich von einer Trompete, eine Fanfare eher. Ich schreckte hoch

und bemerkte, dass ich nicht nur geschlafen hatte, sondern das auch noch ohne jeg-

lichen Schutz! Aber ich lebte noch, mir ging es verhältnismäßig gut. Die Gestalten

hier schienen nicht feindselig zu sein. Angelockt von der nun spielenden Musik,

steckte ich mein Gesicht durch die Zweige. Musik spielen sah ich keinen, dafür aber

eine Menge junger Leute in weißen Gewändern, in der Hand Kränze aus Zweigen.

Diese legten sie nach und nach in den Fluss und sahen ihnen nach, bis sie, platsch,

verschwanden. Dann jubelte einer der Jünglinge auf. Die Bedeutung davon hätte

ich nur zu gerne verstanden, aber vielleicht… Ich riss wenige, dünne Zweige des

Strauches vor mir ab und begann, sie ineinander zu flechten, bis daraus ein Kranz

entstand. Als es Abend wurde und keine Seele mehr anwesend war, schlich ich

hinaus. Ohne Rüstung. Und ich legte meinen Kranz auf das Wasser und sah ihm

nach, wie er flussabwärts trieb. Er trieb langsam vor sich hin und schaukelte leicht.

Ich setzte mich ans Ufer und seufzte. Die Haare fielen mir ins Gesicht. Als ich sie

weggestrichen hatte, war der Kranz aus meinem Sichtfeld verschwunden. Das

Geheimnis dessen würde mir wohl verwehrt bleiben, würde ich keinen finden, der

es mir erklären könnte.

Platsch! Vor mir tauchte wieder dieses Gesicht auf, die großen Augen. „Lydia?“

„Ich dachte schon, du legst mir nie einen Kranz ins Wasser.“ Sie lächelte mich ver-

spielt an, faltete ihre Ellenbogen auf dem Ufer und legte ihren Kopf darauf.

„Du hast also meinen Kranz?“, fragte ich nach.

Sie nickte langsam und dann fiel er mir in ihrer wirren Haarpracht auf.

„Und was bedeutet das jetzt? Ich habe all diese jungen Wesen beobachtet, wie sie

jubelten. Gibt es für mich auch einen Grund zum Jubeln?“

„Nun ja…“ Sie kratzte ich verlegen am Ellenbogen. „Das bedeutet, dass du mein

Angetrauter wirst und mich mit an Land nimmst.“ Sie ließ ihren prächtigen Fisch-

schwanz an die Oberfläche gleiten. „Und ich weiß nicht einmal, wie du überhaupt

heißt.“

„Vanda!“, antwortete ich schnell. „Vanda heiße ich! Aber ich kann dich nicht

heiraten.“

„Du musst. Das sind die Bedingungen, wenn man am Frühlingsfest teilnimmt.

Sobald du einen Kranz aufs Wasser legst, stimmst du automatisch zu.“

Sie wirkte etwas beleidigt.

„Lydia, ich kann dich jetzt nicht heiraten. Ich bin auf einer wichtigen Mission.“

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„Was denn für eine?“

„Ich bin hier aus Volkesland und-“

„Woher?“

„Volkesland, nebenan, wir haben uns umbenannt, nachdem die Königsfamilie

geputscht wurde.“

„Wie bitte?“ Ihre Augen weiteten sich.

„Ich bin einer von vielen Überbringern dieser frohen Kunde! Und ich möchte

auch noch den Rest des Landes kennenlernen und es überall erzählen.“

„Das solltest du besser tun. In Mamoria wird dich einiges erwarten.“ Sie deutete

den zweiten Berg hoch, auf die weißen Flecken.

„Du wartest hier auf mich?“

Sie nickte lächelnd und tauchte dann wieder ab, meinen Kranz auf dem Kopf

ruhend.

Ich hatte die Rüstung wieder angelegt und Cosmia war zurückgekommen. Sie

freute sich für Lydia und mich. Da ich jetzt die Gewissheit hatte, dass auf dem

zweiten Berg jemand leben musste, fühlte ich mich in meiner Schutzuniform deut-

lich wohler. Ich stand jetzt am Abhang und betrachtete die Bäume, Sträucher und

vor allem die Wurzeln, an denen ich mich hochziehen könnte. Und dann kletterte

ich einfach drauflos. Ich fand immer wieder Gehölz in Greifreichweite, an dem ich

mich hochziehen konnte und sah besser nicht nach unten in die Tiefe. Cosmia,

dachte ich, wenn ich nur so fliegen könnte wie du!

Am Abend lag ich bäuchlings unter meinem Zelt und blätterte wieder in dem

Tagebuch.

„Forschungstagebuch Dr. Gesine Schnabel – Tag 177: Nun sind wir schon seit zwei

Wochen hier in Allabastye und finden keinen Weg zurück nach Berlin. Wie auch? Wir sind

in einer Zeit gelandet, wo es noch nicht einmal Elektrizität gibt! Bob verliert seinen Verstand

und schlägt vor, dass wir uns hier ein neues Leben aufbauen. Aber wie soll das gehen?! Als

Menschen zwischen Elfen, Orks, Zentauren, Magiern und Meermenschen? Wir würden nie-

mals akzeptiert werden. Er wird schon sehen. Ich jedenfalls werde weiter versuchen, wieder

nach Hause zu kommen. Gezeichnet Dr. Gesine Schnabel.“

Ich konnte bezeugen, dass es als Mensch hier schwer war. Seit jeher hatte meine

Familie Diskriminierung erleben müssen. Auch das versteckte die Ritterrüstung,

dass ich nicht zaubern konnte, keine Flügel hatte und keinen Fischschwanz. Ich war

ein Mensch und meine Familie war die einzige menschliche in ganz Volkesland.

Wir waren weitestgehend unter uns geblieben, Selbstversorger gewesen.

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Als es früher noch Menschen gab, wollten sie die Wesen ausrotten und die Welt

für sich haben. Als ich zum Ritter wurde, wollte ich mich genau da gegen stellen. Die

Menschen mögen grausam gewesen sein, ich war es nicht.

Nachdem ich mir wie immer einen Überblick über meine Umgebung verschafft

hatte, wollte ich nach Mamoria ziehen. Ob Lydia mich begleitete hätte, hätte sie

Beine? Sie hätte auch bestimmt einen leichtern Weg nach hier oben gekannt. Jeden-

falls schien die Umgebung hier der auf der anderen Seite des Landes zu gleichen.

Nur gab es hier mehr von den Bäumen mit den essbaren Früchten dran. Und auch

die Wurzeln hier waren genießbarer. Es roch förmlich nach Leben, aber noch war

ich keinem begegnet. Die Blumen hier waren hübsch und gar nicht so bedrohlich,

auch wenn hier und da mal eines dieser violetten Biester wuchs.

Irgendwann sprang mir ein Schild ins Auge: Mamoria und ein Pfeil nach rechts.

Ich bog also ab und stand wenig später in einer genauso verlassenen Stadt wie

drüben. Nur waren die Häuser nicht ganz so heruntergekommen und hatten sogar

Türen. Nach einer Weile konnte ich Stimmen wahrnehmen, die in naher Ferne

sein mussten. Langsam und leise ging ich den Hauptpfad entlang, auch hier war an

dessen Ende ein Turm. Der Turm schien einen großen Vorhof zu haben, der durch

die strahlend weißen Wände abgegrenzt war. Nach einer Weile war ich mir sicher,

dass die Stimmen von dort kamen.

„Die Verliebten schauen sich an, aber gehen in getrennten Betten wieder schlafen.

Die Werwölfe erwachen!“

Verliebten? Schlafen? Werwölfe? Es war weder dunkel noch Vollmond, also

wovon redeten diese Wesen?

„Der Tag beginnt und Paulus ist tot! Klagt euch an.“

„Man, wieso muss ich immer als erstes sterben?“

Ein junger Zentaur kam auf das eiserne Tor zu, das den Hof vom Hauptweg

trennte. Gleich würde er mich erblicken und –

„EINDRINGLING!“ Wenige Sekunden später waren dutzende Lanzen und

Pfeile gegen mich gerichtet.

„Wer bist du und was willst du hier?“, fragte mich die hochgewachsene Frau mit

den wilden, dunklen Locken und den Wolfsohren. Sie schien die Anführerin der

Bande zu sein. Die war es auch, die mich niedergeworfen und samt Rüstung an

einen Pfahl gefesselt hatte.

„Iff bin Fanda und iff komme in Fieden!“, nuschelte ich durch den Knebel hin-

durch. „Man, könnt ihr daf Ding nift abnehmen?“


Woraufhin sie den Knebel losband.

„Also nochmal!“

„Ich bin Vanda und ich komme in Frieden“, wiederholte ich mich.

„Ach ja, Vanda?“ Zu meinem Namen machte sie eine Gänsefüßchenbewegung

mit den Fingern. „Und woher kommst du?“

„Aus Volkesland. Von nebenan. Ihr wisst schon, da wo jahrelang große Mauern

drum waren. Die Regierung wurde geputscht und wir haben Volkesland gegründet.

Ich bin geschichtlich nicht gut, der Rat kann das sicher besser erklären.“

„Ihr habt WAS?“, kam es nun etwas verzweifelt aus den hinteren Reihen. „Heißt

das, wir haben das all die Zeit hier umsonst gemacht?!“ Jetzt brach Getuschel aus

und die Anführerin funkelte mich böse an. „Du lügst! Woher bist du wirklich? Und

was bist du?“

„Ich sage die Wahrheit, seht es euch doch selbst an! Wir wollen Freundschaft zu

den anderen Ländern aufbauen. Und ich – ich bin ein Mensch.“

Ein Raunen ging durch die Menge, sie hatten mit dem Tuscheln aufgehört.

„LÜGNER! Menschen gibt es doch nur in –“

„Ja“, unterbrach ich sie, „Menschen gibt es nur in den Mauern, eingesperrt, aber

die Mauern existieren nicht mehr. Wir sind jetzt frei, Volkesland ist endlich frei!“

„Und einen Pusch, sagst du, gab es? Wieso hörten wir nichts davon?“

„Nun, ihr lebt recht abgeschieden. Ich habe mehrere Wochen gebraucht, um

überhaupt hierher zu kommen.“ Sie wandte sich nun um und sprach zu der Menge:

„Es tut mir leid, Krieger, die Mission ist abgeblasen.“

Hier und da hörte ich ein „Och manno!“, und die Menge zerstreute sich. Die

Anführerin begann, mich loszubinden und ich nahm anschließend meinen Helm

  1. Dann gab ich ihr meine Hand. „Vanda.“

„Brie“, antwortete sie und nahm meine Hand. „Folge mir.“

Ich lief neben ihr den Hauptweg entlang. Brie hatte die Hände hinter ihrem

Rücken verschränkt, knapp über der Stelle, wo ihr ein Wolfsschwanz aus dem

Körper wuchs. Sie räusperte sich nach einer kurzen Stille.

„Wir haben uns nach Mamoria zurückgezogen, als die Lage in deinem Land

kritisch wurde. Seit jeher haben wir an unserem Plan gefeilt, um unsere verlorenen

Brüder und Schwestern zu rächen: Wir stürzen die Regierung! Nun kamt ihr uns

zuvor.“

Sie seufzte. „Nun sind wir quasi arbeitslos. Hier in Allabastye gibt es sonst nichts.

Keine Landwirtschaft, keine Märkte, keine Schulen. Wir hatten nur unsere Mission

vor Augen. Das Land ist verwildert, nur die Meermenschen im Fluss gibt es noch.“

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„Ach ja, Cosmia, gut, dass du mich erinnerst.“ Erschöpft ließ ich mich auf einem

Stein nieder und kramte nach meinem letzten Stück Pergament. Dann begann

ich nachzudenken. Ich hatte an dem Frühlingsbrauch der Meermenschen teilge-

nommen, einen Kranz aus Zweigen geflochten und ihn ins Wasser gelegt. Zu meiner

Überraschung war er nach ein paar Minuten verschwunden. Dann machte ich mich

auf den Weg, ich hangelte mich den Abhang hoch, von Baum zu Baum. Ich setzte

die Feder an, denn eine spannende Sache war ja doch passiert: „Komme auf der

anderen Seite der Schlucht an, werde sofort angegriffen! Mit Lanzen und Pfeilen,

alle auf mich los. Bestimmt 30 Leute. Verschiedenste Kreaturen. Meine Rüstung hat

einige Beulen abbekommen! Nach der Verständigung erzählten sie mir, sie würden

einen Putsch gegen die Regierung in Volkesland planen. Ich klärte sie darüber auf,

dass dies bereits geschehen ist, scheinbar hatten sie es nicht mitbekommen. Werde

sie wohl mit zurücknehmen, der Weg ist ja nicht weit.“

Ich wendete mich wieder Cosmia zu: „Mal sehen, was der Rat dazu zu sagen

hat.“

Brie hatte mir ein Bett in ihrem Haus angeboten, was ich gerne angenommen

hatte nach den ganzen Nächten auf dem harten Boden. Die Lage der Allabastyaner

war eindeutig: Hier konnten sie nicht bleiben. Zumindest nicht unter diesen

Umständen. Brie hatte mir erzählt, dass ihre Vorräte an Essen gerade einmal so

reichten und ihre Kämpfer viel zu dünn waren und über Hunger klagten. Dieses

Land war so lange sich selbst überlassen gewesen und die Natur holte sich zurück,

was einst ihr gehörte. Das Land war kaum größer als eine Hauptstadt und hatte

kaum Einwohner. Was war hier nur passiert?

Ich griff nach dem Tagebuch, in dem die zwei Forscher einer ähnlichen Lage vor-

gefunden haben mussten. Vielleicht fand ich darin Antworten.

„Forschungstagebuch Dr. Gesine Schnabel – Tag 245: Die Bewohner von Mahagonia

sind sehr nett und versorgten uns mit Nahrung. Bob arbeitet Tag und Nacht an unserem

neuen Haus. Was soll ich sagen – er hatte recht. Hier kommen wir nicht mehr weg. Glück-

licherweise gibt es in unserer Zeit nicht viele, die uns vermissen und somit möchte ich nach

vorne sehen und hier ein neues Leben beginnen. Gezeichnet: Gesine.“

Ich blätterte zum Ende. Was für eine merkwürdige Geschichte war das denn?

Menschen sollten hier per Zeitreise aufgetaucht sein? Lebten nicht schon immer

Menschen hier? Ich dachte, sie wären nur ausgerottet worden. Ein Blatt fiel leise zu

Boden und ich hob es auf.

„Forschungstagebuch Dr. Gesine Schnabel – Tag 160: Die Bewohner (Elfen, Magier,

Zentauren etc., ja, wie aus einem Märchenbuch) scheinen mehr Angst vor uns zu haben als

wir vor ihnen. Einer fragte danach, was für Wesen wir seien. „Menschen“ war für ihn kein

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Begriff. Sind wir etwa die einzigen Menschen hier? Ich plane nicht, dass herauszufinden, nur

wieder nach Hause zu kommen. Gezeichnet Dr. Gesine Schnabel.“

Und das war´s. Die Geschichte von zwei Forschern, die hier gestrandet waren,

so wie es mir meine Mutter immer zum Einschlafen erzählt hatte. Auch ich war

nun schläfrig, legte das Buch weg, löschte das Licht und drehte mich zur Wand.

Zeitreisen…

„Brie! Brie!“ Mit der Antwort des Rates in der Wand, stürmte ich auf den großen

Platz. Ich hatte nun ein paar Wochen hier verbracht und die Bewohner und ihre

Bräuche kennengelernt. Es gab keine Kirche, sie glaubten an keinen Gott, und wenn

man mal jemanden beten sah, tat er das zu sich selbst. Essen konnte man hier fast

alles roh, Wurzeln, Blätter, Früchte. Sogar die Pflanzenbiester waren genießbar und

sogar eine Spezialität hierzulande. Brie hatte mir versprochen, mir eines Tages zu

zeigen, wie man die Blütenblätter entete. Zum Kochen blieb im normalen Alltag

keine Zeit. Der bestand aus Training am Vormittag und Freizeit am Nachmittag,

wobei die Gruppe meistens zusammensaß und Spiele spielte. Bries Lieblings-

spiel war Werwolf, was sie sich selbst ausgedacht hatte, da sie selbst von einem

abstammte.

Hier lebten überwiegend die jungen Leute, die nach der Dürre vor fünf Jahren

nicht verhungert waren. Brie war mit 35 die älteste in der Runde und deshalb zur

Anführerin gewählt worden. Seit die Dürre vorüber war, wofür sie meine Heimat

verantwortlich machten, hatte sich diese Kämpfergruppe gegründet, die seitdem

auf Rache aus war. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Ich fand Brie, lässig gegen

einen Baum gelehnt. „Ja?“

„Ich habe die Antwort. Der Rat. Er hat zugestimmt, ihr könnt mit nach

Volkesland!“

In den letzten Tagen hatten wir gelegentlich in der großen Gruppe zusammen-

gesessen und uns beratschlagt, ob ein Leben in Volkesland für die Mamorianer

vorstellbar war. Natürlich gab es Gegenwind und beinahe niemand wollte mich

nach Hause begleiten, doch als Brie von den knappen Vorräten durch den viel zu

kalten Winter berichtete hatte, musste auch der letzte einsehen, dass es sich so nicht

leben ließ. Aber sie wollten ihr Dorf nicht einfach so aufgeben und planten deshalb,

zurückzukehren und eine neue Zivilisation aufzubauen. Mit der Hilfe des neuen

Verbündeten Volkesland.

Doch zuvor wollte ich mich an mein Versprechen halten und Lydia wieder-

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sehen. Am nächsten Tag machte ich mich auf zum Fluss, Paulus hatte mir einen

Schleichweg gezeigt. Es dauerte einige Zeit, bis meine Verlobte auftauchte, den

Kranz immer noch in den Haaren.

„Du hast dir ganz schön Zeit gelassen!“

„Bitte verzeih mir, Lydia, es war notwendig.“

„Bist du gekommen, um mich zu ehelichen? Denn nur dann kann ich Beine

bekommen und dir in deine Heimat folgen.“

„Wirklich? Oh, ich hatte gehofft, das kann bis zuhause warten“, gab ich zu und

setzte mich wie gehabt zu ihr ans Ufer.

„Soll das heißen, du hast gar nichts vorbereitet?“

„Nein, tut mir leid.“

„Heute fand eine Massentrauung statt, wenn wir Glück haben, ist der Vermähler

noch da.“ Lydia tauchte ab und ich wartete einige Minuten. Es war schon verrückt,

einfach so ein fremdes Mädchen zu heiraten. Meine Mutter hatte sich jedoch immer

gewünscht, ich käme eines Tages mit meinem oder meiner Zukünftigen nach

Hause. Und diesen Wunsch würde ich ihr nun erfüllen. Denn tatsächlich brachte

Lydia einen alten, bärtigen Meermann mit, der uns an Ort und Stelle zu Getrauten

erklärte. Lydia schwang sich samt ihrem schweren Fischschwanz auf meinen Schoß

(die Rüstung hatte ich in Mamoria gelassen) und als wir uns küssten, verwandelte

sich der Schwanz in ein paar Beine. Sie schien überglücklich zu sein und auch ich

war es bei ihrem Anblick.

Hand in Hand stiegen wir den Berg hinauf und ich stellte sie dem Dorf vor. Nach

der Hochzeitsnacht wollten wir den Marsch nach Volkesland wagen. Es mussten

noch einige Vorkehrungen getroffen werden.

Nun standen wir vor meinem Albtraum, der maroden Hängebrücke.

„Ich setze keinen Fuß mehr auf diese Brücke!“, protestierte ich und Brie brach in

Lachen aus, nachdem ich ihr meine Geschichte erzählt hatte.

„Auch nicht so?“ Sie rief nach Magnus, der an die Schwelle der Brücke trat, sich

hinkniete und die Planken mit beiden Handflächen berührte. Es erschienen aus

dem Nichts Lianen, die sich stabil um das Gerüst der Brücke schlangen. Das war

also der Trick der Einheimischen! Die Brücke sollte gar nicht an sich stabil sein,

sondern für Angreifer als Falle dienen! Und ich war darauf reingefallen. Nun, ohne

meinen Sturz hätte ich Lydia nicht kennengelernt, an deren Hand ich mich gerade

klammerte, während ich einen Fuß vor den anderen setzte. Sie kicherte dabei. Sie

konnte merkwürdigerweise direkt laufen, ohne irgendwelche Hilfe. Obwohl sie ihr

Leben lang einen Fischschwanz gehabt hatte. Cosmia flatterte wegweisend an uns

vorbei.

Es dauerte vier ganze Tage, bis wir die Grenze erreichten. Wir hatten aber auch viele Pausen eingelegt und die Gruppe hatte Lydia und mir Werwolfspielen beige-

bracht. Doch nun setzte ich meinen Fuß als erster auf Volkeslandboden und atmete

die Luft der Freiheit ein. Die Reise war das Beste, was mir hätte passieren können.

Obwohl ich den ersten Teil allein verbracht hatte, hatte ich doch eine Menge

Freunde und meine Frau gefunden.

Wir hielten wenige Wochen später eine richtige Hochzeit ab, zu der alle unsere

Freunde und meine Familie eingeladen waren und schmiedeten Pläne für unser

Leben danach, als Lydia schwanger wurde. Für uns stand fest: Wir wollten Allab-

astye wiederaufbauen und eines Tages dort leben.

Das gefundene Tagebuch meiner Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter Gesine Schnabel

stellte ich ins Regal und blätterte dann und wann darin. Außerdem erzähle ich die

Geschichte am Lagerfeuer. Magnus, der, wie sich herausstellte, schon wesentlich

älter war als geschätzt, konnte sogar noch Geschichten von ihr und ihrem Mann

Bob erzählen. Denn er hatte damals In Mahagonia gelebt und die beiden persönlich

gekannt. Sie waren wohl sehr lieb, wenn auch etwas exzentrisch gewesen.

Als unser Sohn auf die Welt kam, legte ich meinen Ritterdienst nieder und lernte

das Bauernhandwerk, um mich schon einmal auf die zukünftige Landwirtschaft in

Mamoria einzustellen. Lydia verdingte sich als Dichterin und Sängerin und berei-

tete vielen Leuten durch ihre wundervolle Stimme eine gute Zeit.

Und damit fand unsere Geschichte ein gutes Ende.

VOLKESLAND

Aufbruch ins Unbekannte

Eine Gemeinschaftsproduktion von Markus Heitz und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf unter Leitung von Renate Zimmermann

Illustrationen: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner

Herausgeber: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V. und Renate Zimmermann

Webseite von Markus Heitz


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