18.02.24 Auch im vergangenen Jahr schrieben die Mitglieder der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek einen Roman zusammen. Und wie schon im vergangenen Jahr wird es hier an dieser Stelle jeden Sonntag daraus eine Fortsetzungsfolge geben. Heute zu lesen von Henriette Sitterlee das fünfte Kapitel KAISERREICH AODORI.
Fünftes Kapitel
Teil I: Aufbruch
Nadri al’Tashal saß in der Kutsche und versuchte, ihre letzte Mahlzeit bei sich zu behalten, indem sie die Landschaft betrachtete.
Jedenfalls wenn man das karge Gebirge, welches sie durchquerte, so nennen wollte. Während ihrer Reise hatte Nadri sich wiederholt gefragt, warum sie sich diese Reise überhaupt antat.
Sie hasste reisen, wurde jedesmal krank davon! Schon der Gedanke, in einer Kutsche zu sein, trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Aber heute sollte sie endlich in dem Land ankommen, welches ihr der Rat aufgetragen hatte, zu erkunden.
Leider waren viele Dokumente, welche sie mit Informationen bezüglich ihres Ziels versorgen hätte können, vernichtet worden oder durch falsche Lagerung unkenntlich geworden.
Und jetzt hatte Nadri endlich ihr Ziel nach fast drei Tagen in dieser schrecklichen Kutsche erreicht und stand vor dem Tór im Berg.
Eigentlich hätte sie schon innerhalb eines Tages ankommen können, aber aufgrund ihrer Reisekrankheit waren sie und alle anderen gezwungen gewesen, langsamer zu fahren.
Nun stand sie (also eigentlich saß sie in der Kutsche) vor dem Tor und grübelte, wie sie fortfahren sollte. Sie war nicht so wortgewandt wie ihre Schwester Leseh, auch nicht so charismatisch wie ihr Bruder Jashur. Nadri war auch nicht so schön wie ihre kleine Schwester Roni und geschickt wie Gaba, ihre älteste Schwester, schon gar nicht.
Nein, Nadri war die Außenseiterin ihrer Familie, die „sich nur mal anstrengen müsste, dann wäre sie genauso gut wie die anderen“, wie ihre Mutter immer gerne sagte.
Mit ihrer eher zurückhaltenden Art und auffälligem Äußeren hatte sie noch nie für das Familiengeschäft getaugt.
Illustration: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner
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Zögerlich schaute sie an dem mehrere Meter hohen Tor empor und schluckte.
Ich kann das. Was soll schon schiefgehen? Ich meine, ich könnte sterben, aber sonst… Es war
nicht meine Idee auf diese Reise zu gehen! Ich tue das nur für meine Familie, um ihnen zu
zeigen, dass ich mehr bin als eine Buchliebhaberin. Bücher zu lieben ist doch das Natürlichste
der Welt!
Nachdem Nadri sich mental vorbereitet hatte, stieg sie aus der Kutsche und ließ
auf das Tor zugehend ihren Blick entlanggleiten. Das Tór im Berg war zweiflüglig
und fügte sich nahtlos in den Berg und das umliegende Gebirge ein. Die Entstehung
vom Tor war schon lange in Vergessenheit geraten, aber es war alt, sehr alt.
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Vor Volkesland handelte es sich hier um einen wichtigen Militärstützpunkt und
wimmelte wahrscheinlich nur so vor Leben. Aber hier und jetzt war es still und ver-
lassen, fast schon tot. Verschiedene Bilder von Wäldern und Tieren waren in und
um das Tor hinein gemeißelt. Ehrfürchtig strich Nadris Hand über die Geschichte,
welche im Stein erzählt wurde. Bis sie mit ihrer Hand die Gestalt eines Hirsches
berührt, welche nachgab und sich geschmeidig in den umliegenden Stein einfügen
ließ. Sie hatte einen Mechanismus ausgelöst, erkennbar an dem Grollen, das aus
dem Tor erklang, während es sich langsam öffnete.
Nadri schluckte. Eigentlich wollte sie sich noch ein paar Momente sammeln,
bevor sie sich dem Unbekannten stellte. Ihre Gedanken rasten. Was, wenn ich gerade
den größten Fehler in meinem Leben begangen habe?! Vielleicht hätte ich klopfen müssen?
Aber auf Stein klopfen tut doch weh… Welche Barbaren müssen wohl in diesem Land
leben?
Ihre Reisegesellschaft war währenddessen schon längst umgekehrt, da Nadris
Eltern sie nur für den Weg zum Tór im Berg bezahlt hatten. Nadri war ganz allein
vor dem Unbekannten. Das Tor war nun genau einen zwei-Menschen-großen Spalt
offen, und eine Gestalt näherte sich mit schlurfenden Schritten. Eine Gestalt, welche
immer kleiner wurde, je näher sie dem Spalt kam. Und langsam offenbarte sie sich
als ein sehr alter Mann mit einer Brille, die fast sein ganzes Gesicht einnahm.
Der alte Mann stellte sich als der Torwächter Urjin vor. Vor vielen Generationen
hatten seine Vorfahren das, was heute Volkesland genannt wurde, verlassen, um
neue Länder zu erkunden. Und waren schlussendlich im Kaiserreich Aodori
gestrandet, mittellos und verloren in der Fremde. Die damaligen Torwächter hatten
sie aufgenommen und ihnen eine Chance gegeben, sich eine Zukunft aufzubauen.
Urjin lebte nun zusammen mit seiner Enkelin Nujjid im Tor, nachdem ihre Eltern
umgekommen waren, und bewahrte das Vermächtnis seiner Familie.
Drei Tage lang musste Nadri im Tor verweilen, begründet darin, dass sie sich
akklimatisieren müsse, da die Luft im Reich eine andere wäre. Reichhaltig an Magie,
so dass eine Ausländische aus der Stadt diese sehr wahrscheinlich gar nicht atmen
konnte. Also fragte sie Urjin aus und spielte im Dunkeln des Torwalls mit Nujjid.
Durch die beiden erfuhr sie von den zwei Völkern, die mit ihren Kulturen Aodori
charakterisierten. Da gab es die miyala yanyama, ein stolzes Volk, größtenteils im
Westen des Landes anzutreffen. Auffällig an ihnen waren die Edelsteine und Kris-
talle, zumeist in ihren Gesichtern, die wohl ihre Seelentiere darstellen sollten. Die
Farbe der Steine war oft auch die Farbe ihrer Augen oder Haare. Das andere Volk
war im mit dichten Wäldern und Dschungeln bewachsenen Osten des Landes
zu finden, die home besta. Nujjid beschrieb sie als stark und wild, halb Tier, halb
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Mensch. Auch diese pflegten eine Verbindung zu Seelentieren und konnten sich
wohl komplett in besagtes Tier verwandeln. Mit diesem Wissen hoffte Nadri, viel-
leicht nicht allzu sehr aufzufallen. Seit sie in dem Tór angekommen war, hatte sie auf
ihren Hut verzichtet, sodass ihr silbernes Haar hoch oben auf den Wehrgängen des
Tóres frei im Wind wehte. Als die kleine Enkelin ihre Haare zum ersten Mal gesehen
hatte, waren ihre Augen so groß wie Untertassen geworden und sie hatte was von
einer Prophezeiung gemurmelt. Auf Nadris Nachfrage war sie aber dann kichernd
weggelaufen.
Am dritten Tag und dem Ende ihrer Isolation wurde Nadri ein Brief überreicht,
der wie aus Blüten gemacht war. Beim Öffnen des Umschlags strömte ihr eine
Wolke aus Orchideenduft entgegen. In geschwungener Schrift aus goldenen, glän-
zenden Buchstaben stand folgendes geschrieben:
An die Fremde aus der vergangenen Nähe,
Wir, das Kaiserhaus des ehrenhaften Reichs Aodori, laden Euch in den Palast ein zur Fest-
stellung der Absichten des von Euch repräsentierten Reich ‚Vollers Länge‘. Eure Ankunft wird
schnellstmöglich erwartet.
Gezeichnet Listrage aus dem Hause Aodori, Bringerin der Ernte, Bardin des Frühlings,
regierende Kaiserin
Seufzend ließ sie den Brief sinken, so oft schon gelesen, dass die Kanten ganz zer-
knittert waren. Nadri blickte zu dem Zelt aus Sternen über sich, das Mondlicht fing
sich in ihren Augen, welche in der Nacht so dunkel wie der Himmel waren und
doch schien es, als wäre ein Stück des Firmaments selbst in ihr. Was soll ich nur tun?
Es scheint, als wäre mein Weg von allem, nur nicht von mir bestimmt. Verzweiflung machte
sich in Nadri breit, und sie zerknüllte das Stück Papier vollends. Morgen würde sie
zum Palast aufbrechen, ob sie wollte oder nicht. Urjin hatte ihr beim Abendessen
mitgeteilt, dass ihre Eskorte bereits auf dem Weg war. Daraufhin hatte Nadri ihren
ersten Bericht an den Rat verfasst. Als sie nun aufstand und hinaus auf das so fremde
Reich voller Natur und Weite blickte, senkte sich eine Decke aus Resignation über
Nadri. Es schien, als stünde ihr doch ein größeres Abenteuer bevor.
Zur Dämmerung erschien eine Kutsche, die aussah wie eine Knospe und sich
augenscheinlich ohne die Zugkraft eines Tieres bewegte. Begleitet wurde diese von
einem Tiger, dessen Körper nicht weniger groß war als die Kutsche selbst. Nadri
stand bereits wartend vor dem Tor, leicht schwankend durch ihre innere Unruhe,
welche ihr jeglichen Schlaf verweigert hatte. Auch heute hatte sie sich entschieden,
den Hut wegzulassen, welchen ihre Mutter ihr fortwährend aufgezwungen hatte.
Ihr Haar in einem Zopf gebändigt, blickte sie mit müden Augen der Kutsche ent-
gegen. Ihre Geschichte begann.
Teil II: Ankommen
Der Tiger hieß Asral und war eigentlich kein Tiger, sondern ein home besta, dessen
Seelentier ein Tiger war. In seiner menschlichen Gestalt war er größer als Nadri und
sein Haar schien so rotgolden wie das des Tigers, und aus seinen Augen strahlte
der scharfe Verstand einer Katze. Oder waren das sogar Katzenaugen? Sein Gesicht
zeigte die Spuren eines erfüllten Lebens, denn Lachfalten waren zahlreich um seine
Augen. Selbstbewusst stolzierte er auf Nadri zu. Beim Näherkommen schien er kurz
zu stocken und schien ihr Äußeres in sich aufzunehmen.
„M’ylad, es ist mir eine Ehre, euch als Gast der Kaiserin zum Palast zu begleiten.
Ihr könnt mich Asral nennen. Ich bin der Vize-Kommandant der königlichen
Garde“, stellte er sich galant mit brummiger Stimme vor, sein vorheriges Erstaunen
geschickt verbergend.
Nadri sank in einen tiefen Knicks, die Augen zu Boden gerichtet. „Die Freude
ist ganz meinerseits, man nennt mich Nadri. Seid ihr“, ihre Stimme brach vor Ner-
vosität, „seid ihr ein home besta, die sich in ihre Seelentiere verwandeln können?
Urjin, der Torwächter hat mir von den zwei Völkern, die hier ihren Ursprung
haben, erzählt, aber ich konnte es nicht wirklich glauben. Nicht ohne es mit meinen
eigenen Augen gesehen zu haben.“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. Der
Durst nach dem Unbekannten, nach Wissen war schon immer in ihr, nur hatte sie
mit Büchern allein diesen nie ganz stillen können.
„Bitte steigt in die Kutsche, m’ylad. Die Reise ist nicht gerade kurz, und wir können
nicht wissen, wie lange es wirklich dauern wird. Aodori ist ein Reich voller Magie,
da ist alles möglich.“ Asral half Nadri in die Kutsche, und sofort setzte sich diese
geschmeidig in Bewegung. Die Gestalt des Tigers war alsbald an ihrer Seite.
Während ihrer Reise zum Palast in die Hauptstadt stellte Nadri bei jeder Rast
viele Fragen. Ob man als sein Seelentier geboren wird? Ja und nein, es steht zwar
von Anfang an fest, welches Seelentier man hat, da man zumeist die Merkmale
seiner Eltern erbt. Aber die komplette Verwandlung und damit eindeutige Zuord-
nung des Seelentiers wird erst mit dem 14. Lebensjahr möglich. Bei Fragen zu den
miyala yanyama wurde Asral wortkarg und versuchte, schnell das Thema zu wech-
seln, sodass Nadri es bald aufgab, auf eine Antwort zu hoffen.
In der Kutsche gab es nicht viel zu tun. Nach einer Stunde hatte sie jede Kerbe,
jede Faser genau betrachtet und sich eingeprägt, sodass nicht mehr viel blieb als
aus dem Fenster zu gucken. Erst als sie das tat, realisierte sie, dass ihre Reisekrank-
heit gar nicht in Erscheinung getreten war. Wie durch Magie ging es ihr so gut wie
noch nie. Jetzt konnte sie die Landschaft genauer betrachten. War zu Anfang die
Vegetation eher spärlich, wurde sie mit jeder Stunde üppiger und dichter. Ihr fiel
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auf, dass fast jede Pflanze in einer Schattierung aus Blau- und Violetttönen schil-
lerte und manche sogar leuchteten. Im Dickicht schien es, als würden leuchtend
gelbe Augen ihre Reise beobachten, von Zeit zu Zeit erklang ein Rascheln aus den
Büschen. Und ganz selten war in der Ferne ein Brüllen zu vernehmen, ein Brüllen
wie von einem riesigen Monster, schoss es Nadri durch den Kopf. Hoffentlich werden
wir dem Besitzer nicht begegnen! Sie ließ sich wieder zurück in die Geborgenheit der
Kutsche sinken.
So vergingen erst Tage und dann Wochen, bis Asral ihr schließlich mitteilte, dass
es nur noch drei Tage seien bis zur Ankunft in der Hauptstadt. Abends, als sie ihre
Rast antreten und Asral sich gerade zurückziehen wollte, drehte sich Nadri zu ihm
um und schaute ihm so entschlossen, wie sie konnte, in die Augen.
„Muss ich eigentlich etwas Besonderes beachten, wenn ich die Kaiserin treffe?
Und zu welchem Volk gehört sie eigentlich?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr
heraus, wie bei ihrem ersten Treffen.
Doch bevor er ihre Fragen beantworten und sie damit beruhigen konnte, war
ein Rascheln aus dem Gestrüpp hinter Nadri zu hören. Ihre Augen wurden groß
und sie schaute hilfesuchend zu Asral. Dieser schien jedoch die Ruhe selbst zu sein.
Nahm sogar einen großen Schluck aus seinem Trinkschlauch. Sie war starr vor
Angst, würde sie sich umdrehen, stand ihr der sichere Tod bestimmt bevor. Jeden-
falls dachte sie das. Als sich Asral nun erhob und Nadri endlich ihre Rettung in greif-
barer Nähe sah, sprach er mit lauter Stimme „Niron! Alter Freund, ihr habt genug
Schrecken verbreitet, tretet ins Licht und stellt euch vor!“
Ein alter Freund, schoss es Nadri durch den Kopf. Also keine Gefahr. Erleich-
tert sackte sie in sich zusammen. Nach mehreren tiefen Atemzügen wagte sie, sich
umzudrehen. Zuerst sah sie ein Leuchten in der Dunkelheit. Ein Leuchten so strah-
lend wie Sonnenlicht, das durch einen Amethyst fällt. Mit dem Näherkommen der
Gestalt zeichnete sich der Umriss eines Tieres ab. Ein Jaguar mitten im Sprung. Auf
der nackten Brust eines Mannes?!
Nadris Blick, so fokussiert auf das Edelsteinbild, hatte den dazugehörigen Niron
komplett ausgeblendet. Nun wurde sie rot wie eine Tomate. Sie hatte einen halb-
nackten Mann angestarrt! Schamerfüllt versuchte Nadri, in dem Baumstamm zu
versinken, auf dem sie gerade noch entspannt gesessen hatte.
Niron hatte umbrafarbene Haut. Aus seinem Gesicht leuchteten Augen wie
Amethyste, umrahmt von dunklen Locken. Im Einklang mit sich selbst stand er in
seiner weiten Hose da. Und der Schalk blitzte Nadri entgegen, als sich ihre Blicke
trafen. Beschämt schaute sie weg.
„m’ylad, lasst mich euch den zukünftigen Kommandanten der Garde vorstellen,
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der aktuelle Chef der Stadtwache Niron. Einst mein Schüler, hat er mich schon
lange übertroffen.“ Asral, welcher sich bereits erhoben hatte, klopfte dem jüngeren
Mann freundschaftlich auf die Schulter. „Und das hier“, Asral deutete galant auf
Nadri, „ist der Gast der Kaiserin.“ Nadri erhob sich und fiel in einen Knicks. „Es ist
mir eine Ehre, euch kennenzulernen.“
„Die Ehre ist ganz meinerseits“, kam die Antwort wie flüssiger Honig von Niron.
„Da ihr hier fremd seid, möchte ich euch bestätigen: Ja, ich bin ein miyala yanyama.
Mein Seelentier ist ein Jaguar.“
Und so kam es, dass sie an diesem Abend zu dritt am Feuer saßen.
Die letzten Tage bis zum Palast rauschten nur so an Nadri vorbei. Fragen über
die Kaiserin wurden ihr zwar nicht beantwortet, aber ihr Verhalten beim Treffen
sollte wohl nicht großartig von dem Verhalten beim ehemaligen Hofe abweichen.
„Zu Hofe ist es doch überall gleich,“ hatte Asral gesagt, und Niron hatte bestätigend
genickt. Was sollte schon schiefgehen, dachte sich Nadri. Sie war allerdings nie zu
Hofe gewesen. Aber ihre Schwester Leseh, und die Höflinge hatten nur so an ihren
Lippen gehangen und jedes Wort in sich aufgesogen. Nadri war anders gewesen.
Aus der Sicherheit ihrer heimischen Bibliothek hatte sie keiner für lange herauslo-
cken können. Diese Reise war auch nicht ihre eigene Idee gewesen, aber diesmal
hatte sie keine Wahl gehabt.
So geschah es, dass Nadri noch mit den Gedanken an die Vergangenheit in der
Hauptstadt und somit beim Kaiserpalast ankam. Sie hatte Toushi Houshi erreicht.
Teil III: Begegnungen
Die Straßen waren von jeglichem Leben verlassen. Nadri ließ ihren Blick über die
Fassaden der Läden und Häuser schweifen. Viele waren aus Holz, manche schienen
sogar aus ganzen Bäumen gemacht, und ab und zu konnte sie Häuser aus lila Kris-
tallen entdecken. Vieles ähnelte ihrem Zuhause und doch war es anders. Organi-
scher. Lebendiger, so als wäre die Stadt selbst ein Teil der Natur. Eigentlich müsste
die Stadt voller Leben sein, dachte sich Nadri, aber weit und breit ist niemand zu
sehen. Nicht mal ein Vogel.
Die Kutsche folgte weiter der breiten Straße, welche geradewegs zum Palast zu
führen schien. Immer an ihrer Seite waren Asral in seiner Tiergestalt und Niron
auf seinem Jaguar, der mindestens halb so groß war wie die Kutsche. Er hatte einen
leichten violetten Schimmer und war am Morgen plötzlich erschienen, als sie kurz
vor den Toren der Stadt waren.
Sich immer weiter dem Palast nähernd, konnte Nadri erste Einzelheiten aus-
machen. Größer als jedes andere Gebäude ragte der Kaiserpalast über die Stadt
empor. Ein Gebilde aus veilchenblauen Kristallen erstrahlte in der Mittagssonne.
Die Türme selbst schienen am Himmel kratzen zu wollen. Und jetzt konnte sie
die typischen Geräusche einer lebendigen Masse ausmachen. Hatte sich etwa die
ganze Stadt vor dem Palast versammelt? Je näher sie kamen, desto lauter wurden
die Geräusche.
Nur wenige Meter vor dem Wall wurde die Größe der Menge deutlich. Es
mussten Hunderte, wenn nicht sogar Tausende sein, die dort warteten. Doch auf
wen? Die Kaiserin? Würde sie von der Kaiserin direkt an den Toren empfangen
werden? Nadri grauste es. Aufmerksamkeit und große Mengen waren ihr ein Alb-
traum. Die ersten wurden auf die Kutsche aufmerksam und drehten sich weg vom
Palast, fingen an, auf sie zu zeigen. Rufe wurden hörbar, doch einer Nadri fremden
Sprache. Ein Wort stach hingegen durch seine Häufigkeit hervor: Prophèiteís. Sie
können mich nicht meinen. Nadri kam das Wort vage bekannt vor. Ich bin kein Prophet. Ich
bin … Ich bin ein Niemand, der von seiner Familie verstoßen wurde.
Die Masse teilte sich vor der Kutsche. Nadri konnte in der Menge Leute in allen
Farben erkennen. Von manch einem hatte die Haut die Farbe von Milch mit Honig,
andere hatten dunkle Haut wie die Erde. Wiederum andere trugen die Farben des
Regenbogens zur Schau von dunklem Grün bis zu hellem Blau. Keiner sah wie
der andere aus. Auch ihre Haare waren unterschiedlich, feuerrot und kohlschwarz
waren ebenso präsent wie zitronengelb oder eichenholzbraun. Die home besta
waren am einfachsten zu entdecken. Nadri konnte Hasenohren und Vogelflügel
erspähen. Doch beim genaueren Hinsehen fielen ihr auch die Edelsteinbilder auf
den Körpern der Leute auf. Sie hatte die miyala yanyama entdeckt.
Die Gruppe war vor dem Kaiserpalast angekommen. Nadri spürte Panik in sich
aufsteigen. Ihre Zeit, sich zu beweisen, war gekommen. Die Kutschentür schwang
von allein auf und sie hatte keine andere Wahl, als auszusteigen. Niron reichte ihr
seine Hand als Hilfe, und dank dessen blamierte sie sich zumindest nicht vor der
Masse. Noch ein letztes Mal streifte ihr Blick die Traube an Leuten, dann wandte sie
sich dem Palast zu.
Die hohen Flügeltüren, welche aus hauchdünnem lila Kristall gefertigt waren,
standen bereits offen. Nadri straffte ihre Schultern, strich sich noch ein letztes Mal
über den Rock und ging wackeligen Schrittes hinein. Sie schritt den Korridor hin-
unter. Alle Seiten umschlossen von Kristall, folgte ihr nur der Blick ihres Spiegelbilds.
Die Zeit im Palast schien sich hinzuziehen, wie zäher Honig. Die eigentlich kurze
Strecke den Gang runter zur nächsten Tür schien ewig zu dauern, sodass Nadri mit
jedem Schritt entspannter wurde, bis sie schließlich vor der Tür des Thronsaals zum
Stehen kam.
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Ohne weiteres Zutun öffnete sich auch diese Tür und es wurde eine Gestalt
erkennbar, welche in einer Aura der Erhabenheit vor einem Thron aus Kristall
stand. Die Gestalt, welche die Kaiserin sein musste, schien aus vielen kleinen Ame-
thystsplittern zu bestehen. Obwohl sie stillstand, schienen sich die Splitter ständig
in Bewegung zu befinden.
„Ihr steht vor Ihrer Majestät Lestrage, der Kaiserin von Aodori, Bringerin der
Ernte und Bardin des Frühlings. Verneigt Euch“, ertönte es laut über Nadri. Sofort
sank sie in einen tiefen Knicks, kalten Schweiß auf der Stirn. Reglos harrte sie aus. In
ihrer Eile hatte sie die anderen im Saal noch gar nicht wahrgenommen.
Aus Richtung des Throns erklang eine alterslose Stimme, „Erhebt Euch.
Wir haben Euch schon erwartet, die, die Nadri genannt wird. Kind der Sterne.“
Langsam hob Nadri den Kopf und sofort nahm sie die anderen Gestalten im Saal
wahr. Besser gesagt, ihre Blicke. Beide Völker füllten den Saal. Auffällig war aber die
scheinbar unsichtbare Trennlinie, welche die beiden teilte: rechts home besta, links
miyala yanyama. Nadri fragt sich, was wohl der Grund war, aber lange hatte sie keine
Zeit zum Grübeln. Denn erneut wurde das Wort an sie gerichtet.
„Tretet näher, Kind der Sterne und schaut zu meiner Linken und zu meiner
Rechten. Sagt mir, was ihr seht.“ Wie von der Kaiserin aufgefordert, ging Nadri an
den Leuten im Saal vorbei, bis sie vor dem Thron zu stehen kam. Sie schaute zur
Linken von der Kaiserin und fand eine Frau, die Nadri sofort an einen Pfau denken
ließ. Mit einer Haut, die blau zu sein schien, aber einen grünen Schimmer hatte,
sowie Pfauenfedern, welche sich hinter ihr ergossen, war die Frau eine atemberau-
bende Gestalt. Sie muss eine home besta sein, dachte sich Nadri, ganz offensichtlich!
Und ihr Seelentier wohl ein Pfau. Nadri wandte ihren Blick zu der Person, welche
rechts von der Kaiserin stand, und fand einen Mann. Er hatte dunkelblau schim-
merndes Haar und auch seine Augen waren von einem tiefen Saphirblau. Gepaart
mit seiner goldenen Haut war auch er von einer atemberaubenden Schönheit. Inte-
ressanterweise schien auch er den Pfau als Seelentier zu haben, denn angefangen in
seinem Gesicht erstreckte sich über seinen ganzen Körper die Gestalt eines Pfaus
in Saphiren entlang. Eindeutig ein miyala yanyama. Beide hatten einen kalten und
gelangweilten Ausdruck im Gesicht. So, als hätten sie alle Zeit der Welt und nichts
könnte sie berühren. In der Halle war es still.
Nun war es Zeit, sich der Kaiserin wieder zuzuwenden. Doch welche Antwort
wollte sie hören? Nadri wusste es nicht. „Nun“, die Kaiserin schaute erwartungsvoll,
„was seht ihr?“
„Ich sehe – ich sehe eine home besta und einen miyala yanyama, eure Majestät.“
Sofort zeichnete sich im Gesicht der Kaiserin Enttäuschung ab. „Ich verstehe. Auch
ihr könnt dieses Problem nicht so einfach lösen“, kam die Reaktion der Kaiserin.
Sich nach rechts wendend, ging die Kaiserin ein paar Schritte und sprach erneut zu
Nadri. „Folgt mir, Kind der Sterne. Wir haben mit euch etwas zu besprechen, was
nicht für jedes Ohr bestimmt ist.“
Sie gelangten in einen Garten. Auch hier hatte ein Großteil der Pflanzenwelt
mindestens einen lilafarbenen Schimmer und die Luft war reich an exotischen
Düften. Gemeinsam folgten sie dem Weg. Ab und an konnte Nadri das ein oder
andere Insekt entdecken. Gerne hätte sie den Garten noch weiter erkundet, aber die
Kaiserin hatte angefangen zu sprechen, und was sie sagte, trieb Nadri den Schweiß
auf die Stirn.
„Die beiden neben uns im Thronsaal sind die Zukunft des Reichs, unsere Erben:
Henya und Malyx“, fing die Kaiserin an zu erzählen, als sie schon von Nadri unter-
brochen wurde. „Mit euren Erben, meint ihr eure Kinder, richtig?“
„Meine … Kinder?“ Die Kaiserin hielt inne, als müsste sie erst über die Bedeu-
tung des Wortes nachdenken. „Nein, die Erben sind nicht meine Kinder. Sie sind die
Zukunft des Reiches. Man könnte sagen, dass das Reich mein Kind ist.“
Das musste Nadri erst einmal verarbeiten. Wenn die beiden nicht ihre Kinder
waren, warum sollten sie dann die Erben sein? Irgendetwas ergab hier keinen Sinn.
„Kommt, wir wollen euch etwas zeigen. Etwas, was nur für die Augen derer ist,
die aus dem Haus Aodori kommen.“ Die Kaiserin schritt weiter voran, tiefer in den
Garten hinein, einem fast komplett überwucherten Weg folgend. Am Ende standen
beide Frauen vor einem Bambuswald aus Kristallen, die in allen Farben des Regen-
bogens schillerten.
„Wenn sich die Zeit des Regenten zu Ende neigt, wird auch das Reich schwächer.
Es wird neue Kraft gebraucht. Also wenden wir uns wieder zum Anfang, an den Ort,
an dem unsere Existenz begann, und wählen einen Erben. Der Erbe wächst heran
und löst den alten Regenten ab. So hätte es auch bei uns sein sollen.“
Einen Moment herrschte Stille zwischen den beiden, nur der Wind im Bambus
war noch zu hören.
„Als wir die ersten Zeichen unserer Schwäche bemerkten, wählten wir unseren
Bambus sorgfältig. Drei Tage lang streiften wir unablässig durch den Wald und
suchten nach dem Richtigen. Bis wir ihn fanden, im Licht saphirblau, im Schatten
pfauenblau. Wir spürten, dass es dieser Bambus sein musste, seine Zeit war
gekommen. Also fällten wir ihn. So wie es der Kaiser vor mir getan hatte, und der
vor ihm. Doch war es nicht ein Erbe im Inneren des Bambus, sondern zwei.
Etwas war geschehen, was nicht hätte passieren dürfen. Noch nie hatte es zwei
Erben gegeben. Hatten wir einen Fehler begangen? Wir waren uns doch sicher, dass
es der richtige Bambus war.“
Die Kaiserin wandte sich vom Wald ab und zu Nadri.
„Wir sind ein Reich der Harmonie und des Friedens. Deshalb haben wir uns auch
sofort abgeschottet, als euer damaliger Herrscher an die Macht kam. Der Wind trug
seine Korruption bis weit über die Berge. Jetzt sind wir ein Reich, das im Innersten
gespalten ist.“
Nadri blinzelte, es schien, als gäbe es ein paar Probleme im Kaiserreich.
„Das, das tut mir leid. Aber was soll ich dabei für eine Rolle spielen?“, fragte
Nadri.
„Zum Anbeginn der Zeit traf die Regentin einen Stern. Dieser erzählte von
dunklen Zeiten am Firmament, Zwietracht und Spaltung im Reich würden
kommen. Doch würden die Sterne einen der ihren schicken. Das Kind der Sterne.
Den Prophèiteís. Dich. Du wirst uns helfen, eine neue Morgenröte ins Reich zu
bringen.“ Die Worte der Kaiserin verklangen, während sie den Garten verließ und
Nadri allein zurückließ.
Als Nadri schließlich ihren Weg aus dem Garten gefunden hatte, war sie bereits
von einer home besta empfangen worden, die sie zu einem Zimmer geführt hatte.
Darin war ein Tisch voll mit verschiedenen Speisen, der Schrank gefüllt mit Nadri
fremden Gewändern. Die Worte der Kaiserin wogen schwer auf Nadris Schultern,
sodass sie die vielen neuen Sachen nicht beachten konnte. Ihr war eine scheinbar
unlösbare Aufgabe präsentiert worden.
Teil IV: Versuchen
Als Nadri am nächsten Morgen ihr Bett verließ, fand sie einen reichlich gedeckten
Frühstückstisch vor. Auf ihrem Teller lag ein Brief. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass
sie mit den zwei Erben zwei Städte besuchen würde, welche unter der aktuellen
Situation besonders litten. Diesen sollten sie helfen. Danach wüsste Nadri hoffent-
lich, welcher der wahre, der richtige Erbe sei und somit den Thron besteigen dürfte.
Sie würde am Mittag im Hof erwartet. Der Brief endete mit der Unterschrift der
Kaiserin.
Und so war es. Zur Mittagsstunde stand Nadri im Hof, vor sich mal wieder eine
Kutsche, welche auch eine überdimensionale Blütenknospe sein könnte. Sie stand
allein im Hof. Keine Anzeichen von den beiden Erben Henya und Malyx.
Nadri war ratlos, was sollte sie nun tun? In Ermangelung anderer Möglichkeiten
entschied sie sich, das Einzige zu tun, was einigermaßen Sinn für sie in dieser Situa-
tion ergab. Sie stieg in die Kutsche und wollte es sich gerade gemütlich machen, als
sich diese auch schon in Bewegung setzte.
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Verdammt, schoss es Nadri durch den Kopf, die erschrocken ihre Augen aufge-
rissen hatte. Das ist jetzt nicht so gelaufen wie geplant… Was soll ich jetzt tun?
Nadri befand sich auf dem Weg zur ersten Stadt. Mit jeder Stunde wurde klarer,
dass sie sich Richtung Westen, Richtung Meer bewegten. Am dritten Tag erreichte
sie die Hafenstadt Yutaka Umi. Da sie nichts zum Lesen für die Fahrt vorbereiten
konnte und auch nicht gewusst hatte, wie lange alles dauern würde, seufzte sie
erleichtert, als die Kutsche ruckelnd vor einer Gaststätte zum Stehen kam. Die
Gaststätte befand sich in einer mehrere hundert Jahre alten Robinie, deren Borke
im Licht violett glänzte. Kristallene Fenster schmiegten sich in den Baum, als wäre
es das natürlichste der Welt. Vor eben diesem Gasthof fand Nadri nun die Erben vor,
denen die Ungeduld ins Gesicht geschrieben stand.
„Sie hat lange gebraucht“, ertönte es von Henya, der home besta Erbin.
„Viel zu lange“, kam die Bestätigung von Malyx, dem miyala yanyama Erben.
Gemeinsam stießen sie genervt ihren Atem aus.
„Kommt“, sagte Henya.
„Wir müssen dieses Problem schnell lösen“, ergänzte Malyx.
Nadri, die eigentlich erst einmal etwas hatte essen wollen und sich auf eine erhol-
same Nacht in einem weichen Bett gefreut hatte, war sprachlos. Sie wollte doch
nur entspannt in einem Zimmer sitzen und ein Buch lesen. Doch war ihr das nicht
vergönnt, denn plötzlich standen Henya und Malyx links und rechts von ihr und
schleiften sie weg vom Gasthof.
Auf einem an den Hafen angrenzenden Marktplatz wurden ihre Arme wieder
freigelassen und Nadri schaute sich um. Überall um sie herum befanden sich ver-
schiedenste Stände, manche kleiner, andere fast so groß wie ein Haus. Doch alle
schienen aus Holz oder anderen Pflanzen gemacht, und manche schmückten ihr
Dach mit bunten Stoffen. Nadri sah Obst aus ihrer Heimat, aber auch fremdes.
Schmuckstücke aus Holz oder Tierknochen befanden sich neben schillernden
Gewändern und lila Gemüse. Güter und Wesen aus aller Welt hatten sich hier ver-
sammelt, um zu feilschen und Nachrichten auszutauschen.
Alles schien lebhaft und doch harmonisch. Wo sollte es hier ein Problem geben,
fragte sich Nadri.
„Sie sieht es nicht“, ertönte die genervte Stimme von Malyx.
„Nein, sie sieht es wirklich nicht“, bestätigte Henya. Nadri drehte sich zu den
beiden und schaute sie einfach nur wortlos an. Langsam wurde es ihr zu viel. Malyx
schaute ihr in die Augen, stieß einen angespannten Seufzer aus und erklärte: „Es ist
offensichtlich. Die miyala yanyama handeln nur mit den ihren und die home besta
tun das gleiche. Die Fremden haben keine andere Wahl, als mit anderen Fremden
zu tauschen.“
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„Alles dreht sich im Kreis und keiner kommt mehr voran“, ergänzte Henya tonlos.
Zum ersten Mal hatte Nadri das Gefühl, eine Emotion von den beiden zu spüren,
welche nicht Teilnahmslosigkeit oder Genervtheit war. Sie sorgten sich um ihr
Volk, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollten.
„Habt ihr denn nach dem Grund gefragt, warum die Leute nicht mit anderen feil-
schen wollen?“, hakte Nadri nach.
„Wir“, kam es von beiden, „unsere Existenz ist der Grund. Das Reich ist geteilt
darüber, wer der wahre, der einzige Erbe sein sollte.“
„Oh“, war alles, was Nadri als Antwort vorbringen konnte. „Vielleicht solltet ihr
beide zusammen an jedem Stand vorbeigehen und euch über die Ware unter-
halten? Ab und an etwas kaufen?“, schlug sie nach einem kurzen Moment vor.
Henya und Malyx schauten sie daraufhin nur an, taten aber, wie Nadri vor-
geschlagen hatte. Und schon kurz darauf konnte sie beobachten wie die Tren-
nung, welche ihr vorher nicht aufgefallen war, verschwand. Home besta gingen
zu Fremden, miyala yanyama gingen zu home besta. Alle unterhielten sich freudig,
tauschten sich rege aus, so, als hätten sie sich ewig nicht mehr gesehen. Und viel-
leicht hatten sie das auch nicht, dachte sich Nadri, vielleicht hatten sie schon lange
aufgehört, miteinander zu reden. Und das alles nur wegen zwei Erben.
Danach durfte Nadri endlich ins Gasthaus und sich ausruhen. Allerdings sollte
es schon am nächsten Morgen zur zweiten letzten Stadt ihrer Reise gehen. So stand
Nadri zum Morgengrauen vor dem Gasthof und blickte ein letztes Mal zurück,
bevor sie wieder in die Kutsche musste. Und bemerkte beinahe nicht, dass die
Borke der Robinie nicht mehr violett schimmerte, sondern einen tiefen Blauton
angenommen hatte. Man könnte fast Pfauenblau sagen, schoss es Nadri durch den
Kopf, als sie in ihr Gefährt einstieg.
Es ging Richtung Norden. Diesmal dauerte die Fahrt deutlich länger. So lange,
dass Nadri irgendwann kein Zeitgefühl mehr hatte. Zwar hatte sie immer genug
zu essen dank ihres anscheinend magischen Korbs, die Pausen für einen Austritt
waren allerdings eher spärlich. Eines fiel ihr jedoch währenddessen auf: Je weiter
sie sich vom Herzen des Reichs entfernte, desto blasser und lebloser schien alles zu
werden.
Schließlich kam Nadri in der Gipfelstadt Sammyaku an. Auch hier kam die Kut-
sche vor einer Lokalität zu stehen, welche sich in die Berge schmiegte. Die beiden
Erben standen mit ausdruckslosen Gesichtern davor. Die Stadt schien vollkommen
verlassen.
„Was ist hier geschehen?“, wandte sich Nadri an die Erben.
Mit einem traurigen Ausdruck in ihren Augen antwortete Henya: „Die Kaiserin
verliert immer mehr an Kraft und so wird auch das Reich immer schwächer.“
„Bis es am Ende kein Leben mehr gibt“, ergänzte Malyx in einem unheilvollen
Ton. Nadri schluckte. Das Problem, das hier vorlag, schien weitaus komplizierter zu
sein als das der Hafenstadt. „Können wir denn überhaupt etwas tun? Mir scheint es
unlösbar.“
Ihre Worte verklangen in der verlassenen Stadt. Nur der Wind gesellte sich zu
den dreien. Henya und Malyx schauten sich in die Augen und wandten ihren trau-
rigen Blick zu Nadri. Der Wind trug ihre leisen Worte zu Nadri: „Ihr müsst ent-
scheiden. Wer ist der wahre, der einzig richtige Erbe? Wer soll leben fürs Reich, wer
soll sterben fürs Reich? Entscheidet.“ Nadris Augen wurden so groß wie der Mond,
wenn er voll am Nachthimmel hing. Gerade als sie ihren Mund öffnen wollte, als sie
ablehnen wollte, diese Entscheidung zu treffen, weil diese zu groß, zu schwer wäre,
wurde Nadri schwarz vor Augen.
Blinzelnd kam Nadri zu sich, um sie herum nichts als Schwärze, tiefste Finsternis.
Sie war allein. Innerlich erleichtert, dass sie diese schwere Entscheidung nun doch
nicht treffen musste, beschloss sie, weiter hineinzugehen. ‚Was kann jetzt noch
schieflaufen?‘, dachte sie sich, während sie losging. Die Zeit schien still zu stehen.
Zuerst war Nadri noch gegangen, dann war sie gelaufen, bis sie schließlich rannte.
Doch die Schwärze blieb unverändert, unbewegt. Sie gab auf und setzte sich.
Schloss die Augen und dachte nach. Als sie nun so dasaß in ihren Gedanken ver-
sunken, tauchte über ihr ein kleines Licht auf. Das zweite erschien links von ihr und
war etwas größer. Nach und nach erschienen immer mehr. Bis sie in einem Sternen-
meer saß. Nadri öffnete ihre Augen und staunte. Von allen Seiten vernahm sie eine
Stimme. Eine Stimme, die jung und doch alt schien, wie von einem und gleichzeitig
von Hunderten gesprochen. Es war die Stimme der Sterne, die zu ihr sprach: „Nadri,
Sternenkind, deine Aufgabe ist fast vollendet. Doch scheint es, als hättest du dich
verlaufen und deinen Weg aus den Augen verloren in der Tiefe des Universums, im
Fluss der Zeit.“
Nadri schluckte, das hatte sie jetzt nicht erwartet. Das Gerede über sie und dass
sie die Prophèiteís sein sollte, war für sie nur Unfug gewesen. Doch jetzt schien es
wahr geworden zu sein.
„Die Antwort, die Lösung des Problems ist längst vor deinen Augen. Du musst
sie nur öffnen. Und wisse, selbst in tiefster Nacht wird das Licht der Sterne dir den
Weg weisen.“
Bei diesen Worten öffnete Nadri ruckartig ihre Augen. Sie sah einen Himmel
ohne Sterne über sich, denn es war noch Tag. Malyx und Henya waren beide über
sie gebeugt. Beide mit ihrem Pfauenblau. Pfauenblau wie das Gasthaus in Yutaka
Umi, das am Tag zuvor noch violett gewesen war. Eine Veränderung, ausgelöst nicht
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durch einen, sondern durch beide Erben. Nadri wusste nun, wie sie dem ihr eigent-
lich fremden Reich helfen konnte.
Teil V: Neuanfang
Als Nadri ihre Idee, dass beide zusammen regieren mussten, Henya und Malyx
erzählte, hatte sie zuerst nur enttäuschte Blicke als Antwort bekommen. Doch als
sie während der Rückkehr zum Palast gemeinsam in der Kutsche saßen und sie ihre
Gedankengänge erläuterte, konnte sie die beiden überzeugen. Zurück im Palast,
teilte Nadri der Kaiserin ihre Lösung mit.
Und eine neue Geschichte begann…
VOLKESLAND
Aufbruch ins Unbekannte
Eine Gemeinschaftsproduktion von Markus Heitz und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf unter Leitung von Renate Zimmermann
Illustrationen: Isabell Geger, Antje Püpke, Annika Baartz, Vivienne Pabst, Tim Gärtner
Herausgeber: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V. und Renate Zimmermann
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