Leseprobe aus Gudrun Bernhagens Buch "Fritz ist doof"
21.06.24 Heute um 9.30 Uhr findet wieder die "Morgenlektüre", Autorenlesung mit musikalischer Begleitung, im Stadtteilzentrum Marzahn-Mitte, MP 38, statt. Gudrun Bernhagen liest aus ihrem Buch "Fritz ist doof". Eintritt: 6 Euro (inkl. Kaffee + herzhaftem Frühstück). Wer es heute zu demTermin nicht schaffte, für den ein Auszug aus ihrem Buch hier:
D…, ♀ , *1924, Weimarer Republik, Deutsches Reich
Ja, ich bin gerne zur Schule gegangen. Es fügte sich für mich alles gut zusammen. Mit dem Lernen hatte ich keine Probleme. Auf den Zeugnissen wurden mir immer gute bis sehr gute Leistungen bestätigt, besonders im schriftlichen Ausdruck. Es stand aber auch mal geschrieben, dass ich im Rechnen noch etwas langsam war.
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1930, als ich sechs Jahre alt war, wurde ich in Magdeburg in die Wilhelmsstädter Versuchsschule eingeschult. In einer vorangegangenen Elternversammlung wurden für alle Kinder die Größe, Farbe und der Inhalt der Schultüte festgelegt, die damals bei uns „Ostertüte“ genannt wurde. Kein Kind sollte sich benachteiligt fühlen. Und so bekam jeder nur eine kleine Tüte in den Farben der Schule, die Mädchen in lila, die Jungen in grün. In der Tütenspitze befanden sich nur ein Triesel, damals auch „Hüppeding“ genannt, und darüber ein Ball. Mehr gab es nicht.
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Das Trieseln und Ballspielen machten uns Kindern jedenfalls viel Spaß. Da zur damaligen Zeit die Straßen kaum befahren wurden, waren Triesel und Ball ideale Spielgeräte, um uns stundenlang im Freien zu beschäftigen. Es gab auch andere Spielideen. Kaum vorstellbar, aber wir spielten sogar Autobahnbauer. Überall war die Rede von Hitlers Autobahnbau. Und so schnappten wir uns jeder einen Spaten, trugen ihn über die Schulter gelegt, marschierten vorwärts und riefen wiederholt im Chor: „Schipp, schipp, hurra!“
Da es zu meiner Schulzeit noch keine Schulspeisung gab, waren wir nur während des Unterrichts und damit nur vormittags in der Schule. Ich mochte die Pausen auf dem Schulhof, hielt mich aber ebenso gerne im Klassenraum auf. Wir hatten so schöne Schülertische. Sie waren mit Linoleum belegt und mit einem eingebauten Tintenfass ausgestattet. Zum Schreiben benutzten wir noch richtige Federhalter, an denen die Federn austauschbar waren. Man musste die Feder immer wieder ins Tintenfass tunken, weil die wenige Tinte gerade mal für eine Schreibzeile reichte. Das waren damals Redis- oder Lyfedern. Dass ich diese Namen noch weiß …!
Eigentlich war ich eine freundliche und folgsame Schülerin. Trotzdem hatte ich mich auch einmal blamiert. Ich saß ganz hinten und hatte es in der Vorweihnachtszeit gewagt, heimlich unterm Tisch zu stricken. Die Jungen machten sich mit dem Wollknäul einen Spaß und wickelten den Faden um alle Tische und Stühle. Dadurch flog ich auf. Zum Glück wurde ich nicht bestraft, obwohl es noch die gefürchtete Prügelstrafe gab. Die erhielten aber immer nur die Jungs, wenn sie etwas ausgefressen hatten. Wenn einer von ihnen aufgefordert wurde, mal in den Nebenraum zu gehen, wusste jeder, was Sache war.
Unser Schulweg war etwas länger. Wir fuhren mit dem Fahrrad oder mit der Straßenbahn.
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Den Nachhauseweg versüßte mir auch hin und wieder ein kleiner Freund. Er begleitete mich und trug dann meinen Lederschulranzen. Andere Kinder machten sich dann lustig über uns und riefen uns hinterher: „Schatz und Braut gehen nach Haus, popeln sich die Na-se aus.“ Na, wie Kinder eben sind! Uns störte das nicht.
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Nach der dritten Klasse wurde ich umgeschult. Ich kam an die staatliche Luisenschule für Mädchen und belegte dort den sprachlichen Zweig. Das war dann schon nach Hitlers Machtübernahme, sodass es für uns auch aus diesem Grunde viel Neues gab. Schon an der Grundschule kamen plötzlich zwei Kinder nicht mehr zur Schule. Und auch an der neuen Schule fehlten von heute auf morgen Kinder. Den Grund für ihr Fernbleiben kannten wir damals nicht wirklich. „Umgezogen!“, hieß es. Wahrscheinlich waren es jüdische Schüler, die vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Die neuen Lehrer trugen nun das Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz. Zur Begrüßung standen wir neben der Bank und durften uns erst nach dem Hitlergruß und der ausdrücklichen Aufforderung setzen. Danach musste ein Gebet gesprochen werden, in dem Hitler gehuldigt wurde. Wir Schüler waren immer der Reihe nach dran. Ich kann mich aber an keinen Spruch inhaltlich erinnern. Unsere Lehrer waren Doktoren oder Studienräte, trotzdem wurden die Frauen nur mit „Fräulein“ angesprochen. Ich glaube, das gibt es heute gar nicht mehr. Und mir ist so, als wenn es damals ein Gesetz gab, das Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen das Heiraten verbot.
Nicht nur für jüdische Schüler wurde es gefährlich, auch für behinderte Kinder und Erwachsene. Ich selbst hatte seit der Geburt einen Gehfehler, einen Hüft-gelenkschaden. Meine Mutter wurde deshalb mit mir zu irgendeinem Amt bestellt. Die dortige Mitarbeiterin sprach erst mit meiner Mutter allein: „Soll ich es ihr sagen, oder sagen Sie es ihr selbst?“ Meine Mutter war geschockt, sollte ich doch sterilisiert werden. Zum Glück hatte ich einige Fürsprecher, sodass ich aufgrund meiner guten Zeugnisse verschont blieb.
Die Lehrer nahmen trotz ihrer demonstrierten faschistischen Haltung Rücksicht auf mich, was in meinem Zeugnis zu erkennen war. Dort stand unter dem ersten Fach „Leibesübungen“ der vielsagende Satz: „D… hat alle Übungen, die ihr körperliches Leid zuließ, gemacht.“ Beim Weitsprung habe ich zum Beispiel den Sand immer wieder gerade geharkt. Aber so konkret stand es dort nicht geschrieben.
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1939, als ich in der zehnten Klasse war, begann der zweite Weltkrieg.
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Die drei Schuljahre bis zum Abitur musste ich also in Kriegszeiten absolvieren. Der Unterricht begann an manchen Tagen später oder fand überhaupt nicht statt, denn, wenn die Sirenen der Stadt vor jeglichem Flieger-alarm warnten, dann hieß es nur noch, so schnell wie möglich den Luftschutzkeller aufzusuchen. Unser Weg dorthin war meistens sehr kurz, denn die Waschküche im Hauskeller war durch die Verstärkung der Wände, Fenster und Türen zum Luftschutzkeller umgebaut worden.
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Wenn es hieß, dass die Flugzeuge weiter in Richtung Berlin flogen, dann war ich, schändlicherweise, sehr froh darüber, dass wir verschont blieben. Der letzte Bombenangriff über Magdeburg erfolgte am 16. Januar 1945. Die Stadt stand in Flammen. Zum Glück haben wir auch dieses Inferno überlebt. Allerdings hatten viele Menschen kein Zuhause mehr. Und auch hier hatten wir wieder viel Glück gehabt, denn unser Haus blieb verschont.
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Tadel
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Schon als Kind bemühte ich mich, meine Hefte und Hefter ordentlich zu führen. Dabei spielte besonders die erste Seite eine wichtige Rolle. Sie musste grundsätzlich schön und ordentlich aussehen.
Eines Tages musste ich mal wieder ein neues Heft einweihen. Ich schlug es auf und fing entsprechend der Anweisung des Lehrers an zu arbeiten. Die Seite war schnell beschrieben. Ich war stolz auf meine saubere Schrift und erfreute mich an dem ordentlichen Anblick der ersten Seite. Unser Lehrer ging durch die Reihen und blieb bei mir an der Bank stehen und schaute mir über die Schulter auf mein Heft. Sofort wurde ich unsicher. Habe ich alles richtig gemacht? Die Hoffnung war groß. Bekomme ich nun anerkennende Worte zu hören?
Leider nein. Mein Deutschlehrer hatte nichts anderes im Sinn, als mir alles mit seinem Rotstift durchzustreichen und eine Bemerkung über das ganze Blatt zu schreiben. Und das auf der ersten Seite! Das ging überhaupt nicht! Ich war entsetzt. Wie konnte er mir nur diese, meine geliebte erste Seite so versauen?! Meine Wut suchte sich ein Ventil. Und sie fand es auch. Ich schrieb meinen eigenen Vers darunter. Eigentlich mochte ich den Lehrer, aber in diesem Moment hatte er meine Sympathie für ihn verspielt. Und so stand da nun deutlich und unwiderruflich zu lesen: „Stolp ist doof!“ Selbst wenn ich es auch schnell bereute, konnte ich es nicht wieder rückgängig machen. Tintenkiller gab es damals nicht.
Ja und nun? War es ein Zufall oder nicht? Herr Stolp kam wieder an meinem Tisch vorbei und entdeckte das Ergebnis meines Wutausbruchs. Das war eine unumstößliche und nachweisbare Beleidigung des Lehrers, die einen Tadel zur Folge hatte. Sicherlich hätte man das in einem klärenden Gespräch glätten können, denn wie schon gesagt, hatte ich keine Probleme mit dem Lehrer. Dennoch durfte ich meinen Eltern auch in diesem Fall den Tadel zur Kenntnisnahme und Unterschrift vorlegen. Schon wieder beschlich mich das Gefühl, ein „Schwerverbrecher“ zu sein! Zum Glück zeigten sich meine Eltern wiederholt recht verständnisvoll. Trotzdem … Der Makel auf dem Zeugnis blieb. Und was noch viel schmerzhafter war: Die erste Seite des Heftes blieb versaut!
Limerick
Deutschlehrer Stolp, den mochten alle
Bei ihm gab es keine Schülerkrawalle
Doch „Stolp ist doof“ schrieb ich
Ein Tadel folgte für mich
So wurde Stolp für mich zur Stolperfalle
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