„Na wen haben wir denn hier?“, erklang eine Stimme
19.01.25 Auch in diesem Jahr veröffentlichen wir wieder in den ersten Wochen des Jahres immer sonntags die ersten Kapitel aus dem neuen Buch der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek.
Ihre Kinder
von Vivian Victoria Nestler
1852 Landeswaisenanstalt
Leah weinte fürchterlich, ihr Schluchzen hielt die anderen Mädchen im Zimmer wach. Durch das große Fenster schien das helle Mondlicht herein. Das Schluchzen hielt nun schon mehrere Minuten an, aber keiner sagte etwas. Die Angst saß allen in den Knochen, dass eine der strengen Betreuerinnen hereinkäme und jedes Kind, das noch nicht schlief, aus dem Raum zerren und in die dunkle Kammer zur Strafe werfen würde.
„Leah“, erklang eine sanfte Stimme. Die Mädchen im Raum atmeten auf.
Leah schluchzte weiter, sie hatte weder ein Öffnen der schweren Tür noch die Stimme gehört. Durch ihren Tränenschleier sah sie, wie sich ein Schatten zu ihr ans Bett setzte. Sie sog die Luft scharf ein und zog die Bettdecke übers Gesicht. Bitte nicht, dachte sie, alles, nur nicht die dunkle Kammer. Der Tag war schon schlimm genug!
„Leah“, hörte sie nun endlich die ruhige Frauenstimme sagen. Sie senkte die zur Verteidigung erhobene Decke und warf einen genauen Blick auf die Frau, während sie versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln.
„Grete“, ihre Stimme versagte, sie schluckte und fing erneut an zu schluchzen, während sie die Decke beiseite warf und sich in die ausgebreiteten Arme der Frau warf. Ein Wortregen begann leise, als Leah alle ihre Sorgen des Tages der Grete genannten Frau erzählte. Die anderen Mädchen setzten sich teils aufrecht im Bett hin, teils huschten sie in andere Betten, um die Kälte der Wände und ihrer Herzen zu vertreiben. Alle waren erleichtert, dass Grete heute Nacht Aufsicht hatte. Sie war die mit Abstand gütigste aller Betreuerinnen, sie tröstete die Mädchen und schimpfte nie, außerdem waren ihre Umarmungen die besten, die es gab.
Grete lächelte stumm, während sie Leahs Erzählungen lauschte und ließ ihren Blick entlang der vielen Betten schweifen, die den großen Raum füllten. So viele junge, unglückliche Mädchen, die diesen kurzen Moment der Ruhe und Sanftheit genossen, den ihre Gegenwart ihnen spenden konnte. Wie gern sie sie in mehr Nächten, nein, jede Nacht und jeden Tag schützen würde. Wie gern sie ihnen einen Weg aus den kalten Mauern zeigen würde.
Aber diesen Weg kannte sie selber nicht.
1434 Wald
„Margareth!“ Katherinas Stimme versagte fast beim Schreien, während sie ihrer Schwester durchs Dickicht folgte.
Wie sie diese Ausflüge hasste. Aber Margareth war die ältere Schwester, die, deren Geschichten die Eltern glaubten. Ihr Rock blieb an einem Ast hängen, sie stöhnte und zerrte daran, zwecklos. Plötzlich spürte sie etwas an ihrer Schulter, sie schrie und fuhr herum.
„Margareth!“, brüllte sie in das grinsende Gesicht vor sich. Gott, was für eine Wut sie verspürte! Margareth lachte nur und machte sich daran, Katherinas Unterrock zu befreien.
„Jetzt komm, wir sind gleich da!“, säuselte sie ihrer Schwester ins Ohr, packte sie an der Hand und führte sie vorsichtig voran. Sie hatte seit Wochen den Gesprächen der Mägde gelauscht, die von einer alten Frau im Wald sprachen, die in die Zukunft sehen konnte! Margareth war sich sicher, den Weg zu finden. Ob sie Angst hatte, dass ihre Eltern sauer waren, weil sie sich mit ihrer Schwester aus der Burg geschlichen hatte? Sicher. Aber was brachte einem Angst, wenn es die Möglichkeit gab, einen Blick in die eigene Zukunft zu erhaschen? Eine der Küchenmägde hatte es Ketzerei geschimpft. Aber Gott hat doch alle Menschen erschaffen, also auch diese Frau. Und erst recht wachte er über alle, also auch über diese Frau! Wenn das wirklich Ketzerei wäre, dann hätte ER sicher schon etwas dagegen getan. Einen Blitz geschickt oder so. Und überhaupt, was wusste eine ungebildete Küchenmagd schon? Die konnte ja nicht mal lesen!
Der Wald vor den beiden Mädchen lichtete sich und gab den Blick auf eine atemberaubende Lichtung frei. Sie war gefüllt mit allerlei Pflanzen, zwischen denen schmale Pfade waren. Die schönsten Farben erschienen vor Margareth und Katherina. Einige dieser Pflanzen und Blüten hatten sie noch nie gesehen, andere kannten sie wiederum sehr gut. Während Katherina fasziniert die fremden Pflanzen besah und sich sogar hinkniete, ließ Margareth einen Blick über die Bäume am Rand der Lichtung schweifen. Und wirklich, da direkt ihnen gegenüber im Halbschatten der Bäume stand eine kleine Hütte. Sie sah genauso aus, wie die Mägde sie beschrieben hatten. Zufrieden grinste Margareth, nahm Katherina an die Hand und lief vorsichtig die kleinen Pfade zwischen den Beeten entlang, bis sie vor der hölzernen Tür standen. Sie hörte Katherina schwer schlucken.
„Bis du wirklich sicher, wir sollten-“
„Na wen haben wir denn hier?“, erklang eine Stimme, während sich die Tür knarrend einen Spalt öffnete und im Dunkeln ein Paar Augen erschien.
1998 besetzte Burg
Fasziniert starrte sie in die orangefarbenen lodernden Wellen, die die Luft fraßen. Hitze breitete sich aus. Sie war wie gelähmt. Vor Angst. Vor Unwissen. Die anderen liefen wild umher, versuchten Wasser heranzutragen. Die Hitzewellen mit dem trüben Nass zu löschen. Das kleine Mädchen starrte, unfähig wegzusehen. Was jetzt wohl passieren würde? Mehrere Gebäude brannten, panisch wurden Hühner und Ziegen hinfort gescheucht und gezerrt. Sie hörte das ängstliche Muhen der alten Liese aus der Nähe der Mauern. Jemand rannte gegen das Mädchen. Während Dorothea in den Dreck fiel, hörte sie den Mann fluchen. Er lief weiter. Sie war nass, er hatte einen vollen Eimer in den Händen, schüttete das Wasser direkt ins leuchtende Rotorange. Es wich kurz zurück, dann loderte es wieder hoch.
„Mehr Wasser!“ „Das bringt nichts!“ „Ruft die Feuerwehr!“
Stimmen riefen alle durcheinander. Dorothea fragte sich, was ihre Eltern wohl gerade taten. Sie wollten Pilze sammeln, Dorothea hatte sich aber den Fuß verletzt und sollte bei den anderen Kindern auf der Burg bleiben. Was sie wohl sagen würden, wenn sie vom Pilze sammeln zurückkämen und sahen, dass die Lagerhütte nicht mehr stand? Vielleicht sahen sie noch, wie das Hitzemonster versuchte, die Burgmauern zu fressen. Ob ihm Stein wohl schmeckte?
Schwere Schritte trampelten knapp neben ihrem verletzten Fuß vorbei. Dorothea zuckte, sie zog ihre Knie an den Bauch, immer noch im Dreck liegend und schloss die Augen. Was passierte jetzt? Was, wenn das Feuer alles fraß? Was, wenn sie von der Burg gehen mussten? Würden sie wieder in die alte Zwei-Zimmer-Wohnung ziehen? Würde Dorothea wieder in die alte Schule gehen, die sie vermisste? Aber wie viel Stoff hatte sie wohl verpasst? Ob die anderen schon „Ben liebt Anna“ fertiggelesen hatten? Dorothea vermisste ihre Klassenkameraden, aber sie wollte auch nicht die anderen Kinder auf der Burg missen. Würde sie diese noch oft sehen, wenn sie nicht mehr hier leben durften? Die Polizei und andere Leute in ernst aussehender Kleidung waren in letzter Zeit immer häufiger gekommen und hatten sich alles angesehen. Sie hatten immer unzufriedener, immer grimmiger ausgesehen.
Dorothea spürte, wie Tränen über ihre verdreckten Wangen liefen, um sie herum riefen immer noch alle, es trampelte andauernd jemand an ihr vorbei. Sie wollte hier nicht weg. Die letzten drei Jahre waren zwar irgendwie seltsam, ihre Eltern waren seltsam gewesen, aber sie hatte sich noch nie irgendwo so zuhause gefühlt wie hier. Klar war es sehr komisch, in einer alten Burg zu leben, ohne Fernseher oder einen echten Backofen mit Strom, aber es fühlte sich an, als würde sie eine Zeitreise machen. Ihre Eltern waren da und Tommy, Ashley, Tamara und Eliah, sie spielten immer zusammen. Eliah hatte die besten Spiele parat, von denen Dorothea je gehört hatte. Sie presste ihre Beine doller an ihren Bauch, als jemand an ihrem Kopf vorbeirannte. Sie hörte das Knistern, als der Drache immer mehr ihrer geliebten Burg knusperte.
Dorothea zuckte, als sich plötzlich Hände vorsichtig um sie legten. Sanft hob sie jemand hoch und trug sie weg vom Knistern, weg von den Rufen und dem Trampeln, das ihren zierlichen Körper erschüttert hatte. Sie drückte ihren Kopf in die rauen Stoffe, die die Person trug. Sie kannte diesen Geruch: Maggie. Vorsichtig drehte Dorothea ihren Kopf zu der Frau hoch, blinzelte durch den Dreck und die Tränen und tatsächlich. Maggie trug sie zielsicher durch die rennenden Menschen und immer weiter weg vom Feuer. Dorothea lockerte ihre ineinander verkrampften Hände, ließ ihre Knie los und klammerte sich an Maggie, umschlang ihren Hals und verschob ihr Gewicht in ihren Armen, bis sie das Gefühl hatte, freier atmen zu können.
„Was passiert jetzt?“, flüsterte sie und versuchte, in Maggies Gesicht ein Gefühl zu erkennen. Wenn sie von hier fortmusste, dann würde sie auch Maggie nicht mehr sehen, oder? Aber sie liebte Maggie! Sie spielte immer mit allen Kindern, sie tröstete sie bei allen kleinen und großen Verletzungen und hatte immer dieses warme Lächeln auf den Lippen. Sie kannte ja nicht einmal ihren Nachnamen, wie sollte sie Maggie da je wiederfinden? Ihre Eltern würden wohl kaum eine Hilfe sein, alle Erwachsenen auf der Burg ignorierten Maggie so gut wie immer, behandelten sie wie eine Ausgestoßene. Aber keiner hatte gleichzeitig etwas gegen ihre Anwesenheit hier.
Maggie setzte Dorothea sanft ins Gras. Sie hatte sie aus den Burgmauern herausgetragen, hin zur Straße, die in einiger Entfernung sichtbar wurde, dort hinter dem Feld des grimmigen Bauern. Dorothea sah Maggie mit tränenverschmiertem Blick an, die wiederum strich ihr wirre Haare aus der gelösten Flechtfrisur aus dem Gesicht. Sie lächelte. Dorothea atmete auf. Wenn Maggie noch lächelte, dann würde alles gut werden.
„Ich weiß nicht, was genau passiert, Doro.“ Maggies sanfte Stimme plätscherte um Dorotheas Ohren wie ein leiser Bach. Sie fühlten sich erschöpft von all dem Lärm des Brandes. Hinter Maggie sah sie die Flammen lodern, schnell sah sie die Frau wieder an.
„Aber was ich weiß“, fuhr sie fort, „ist, dass alles gut wird. Für so ein Mädchen wie dich kann es nur gut werden.“
Dorothea schmiegte sich in die Hand, die an ihrer Wange ruhte, atmete tief durch und schloss die Augen.
„Dorothea!“ Sie öffnete die Augen, als sie ihre Eltern schreiend näherkommen hörte. Maggie war weg.
Das Buch heißt "Die Burg" - Geheimnisse hinter den Mauern".
Es ist eine Gemeinschaftsproduktion von Grit Poppe und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf, unter Leitung von Renate Zimmermann.
Illustrationen:
Henriette Sitterlee (fast alle)
Candy Krüger (eine)
Mara Weinkauf (eine)
Finanzierung: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN: 9783759253408