DIE BURG - PROLOG

„Holly, warte! Stopp!“ Svenja rannte der Hündin nach.


12.01.25 Auch in diesem Jahr veröffentlichen wir wieder in den ersten Wochen des Jahres immer sonntags die ersten Kapitel aus dem neuen Buch der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek. 

Prolog

Von Grit Poppe

 Holly, die junge Hündin, zog ungeduldig an der Leine. Sie waren längst vom Weg abgekommen. Svenja stolperte ihr auf dem unebenen Waldboden hinterher.

Hatte der Hund etwas gewittert? Einen aufregenden Duft von einem Reh oder Wildschwein oder gar einem Wolf? Auch wenn man die Raubtiere nicht sah: Seit einigen Jahren gab es wieder Wölfe in der Gegend.

Nicht nur deshalb hatten ihre Großeltern, bei denen Svenja die Ferien verbrachte, sie davor gewarnt, diesen Abschnitt des Waldes zu betreten, den verwilderten Teil, in dem diese geheimnisvolle Burg lag, von der ihr Opa manchmal erzählte, leise und hastig, so als ginge allein von der Erinnerung an diese Zeit eine Gefahr aus. Ihr Opa war ein Heimkind gewesen, soviel wusste Svenja. Und er hatte einige Jahre in dem finsteren Gebäude leben müssen – etwas, das sich Svenja kaum vorstellen konnte. Und genau deshalb wollte sie es ganz genau wissen. Was hatte es mit dieser Burg auf sich? Fürs Erste würde sie wenigstens erstmal einen Blick auf das uralte Gebäude werfen.

Svenja fühlte sich fremd hier. Die Äste unter ihr kamen ihr vor wie Schlangen, die jederzeit nach ihr schnappen konnten. Sie wohnte mit ihren Eltern und ihrem Bruder in Berlin, in einem lauten, dreckigen Viertel. Den Verkehrslärm der Großstadt, den herumliegenden Müll, die überfüllten U-Bahnen nahm sie kaum noch wahr. Diese Stille in diesem Wald hörte sie jedoch, sie war sie einfach nicht gewöhnt.

Weit und breit keinen Menschen zu sehen, kam ihr unheimlich vor. Wenigstens lief Holly mit ihr durch diese verlassene Landschaft. Benno, der alte Rüde, war vor einiger Zeit gestorben und ihre Großeltern hatten Holly, eine wilde Mischung aus Dackel und Terrier mit plüschigen Schlappohren, aus einem Tierheim in Burg bei Magdeburg zu sich geholt. Ursprünglich stammte die junge Hündin aus Rumänien.

Ein Land, von dem Svenja so gut wie nichts wusste, und das sie irgendwie in Verbindung mit Vampiren und dem Grafen Dracula brachte.

Holly besaß keine unheimlichen Züge, erst recht nichts, was an Untote denken ließ. Im Gegenteil, sie wedelte fröhlich mit dem Schwanz, wirkte quicklebendig und höchst neugierig. Svenjas Großeltern waren eigentlich ganz froh, dass ihre Enkelin wenigstens in den Ferien das Gassi-Gehen übernahm. Holly konnte unverhofft losrennen, wenn sie zum Beispiel eine Amsel auf der Wiese herumhüpfen sah. Die alten Leute fühlten sich manchmal von dem Temperament der jungen Hündin überfordert.

Auch jetzt war sie kaum zu bändigen und das, obwohl immer mehr Gestrüpp, umgefallene Bäume und tote sperrige Äste ihnen das Vorankommen erschwerten. Natürlich könnte Svenja zurückkehren auf den Weg, der zum Dorf führte, aber die Burg konnte nicht mehr weit sein – und genau da wollte sie doch hin.

Sie besaß zwar ein Handy, aber natürlich gab es im Wald kein Netz.

Zum Glück hatte sie sich die Strecke vorher bei Google Maps angesehen. Wenn sie sich nicht verlaufen hatten, mussten sie gleich da sein. Svenja würde das Gemäuer nur von außen betrachten, mit der Hündin eine Runde um die Burg drehen und dann zu den Großeltern gehen, die mit Kaffee und Kuchen und ein paar Leckerlis für Holly auf sie warteten.

Gerade als sie einen Zweig beiseiteschieben wollte, jaulte die Hündin laut auf und Svenja spürte gleichzeitig einen jähen Schmerz. Sie zuckte zurück, entdeckte den Splitter in ihrem Fleisch und einen Tropfen Blut, der von ihrem Daumenballen rann. Verdammt nochmal! Sie waren in einen Dornenbusch geraten! Ihre Hand tat weh, sie betrachtete sie kurz wie einen Gegenstand. Rasch entschlossen zog sie sich den Stachel aus der Haut.

„Holly bist du etwa verletzt?“ Svenja ließ die Leine los, zog die Ärmel ihrer Jacke über ihre Hände und drückte das widerspenstige Gestrüpp beiseite, um zu dem winselnden Hund zu gelangen. „Moment, ich komme. Hast du dir auch einen Dorn eingefangen?“ Holly humpelte ein Stück auf sie zu und sah mit ihren großen braunen Augen zu ihr hoch. Doch als Svenja sie streicheln wollte, schnellte auf einmal der Zweig vor und versetzte der Hündin einen Hieb, wie von einer Peitsche. Erschrocken machte das Tier einen Satz. Und ehe sich Svenja versah, lief es davon.

„Holly, warte! Stopp!“

Svenja rannte der Hündin nach. Doch die war schneller als erwartet. Nach ein paar Metern tauchte eine graue Felswand vor ihnen auf. Svenja blieb kurz stehen, japste nach Luft und blickte hinauf. Da erst stellte sie fest, dass sie vor der Burg stand, vor ihrem Ziel. Das poröse graue Gestein wirkte auf den ersten Blick wie ein wuchtiger Felsen.

Svenja sah sich suchend um. Holly war nirgendwo zu sehen. Aber ihr Bellen schallte deutlich zu ihr hinüber. Es klang anders als sonst. Aufgeregter und irgendwie nahm Svenja auch einen Widerhall wahr, ein Echo. Offenbar war die Hündin in ihrer Panik in die Burg gerannt.

Nervös starrte Svenja zu dem Eingang hinüber: ein schweres dunkelrotes Tor, das halb offen stand. Es kam ihr vor, wie ein großes aufgerissenes Maul. Was verbarg sich hinter diesen düsteren Festungsmauern? Was hatten ihr Großvater und andere Menschen dort erlebt? Sie spürte einen Druck im Magen – wie etwas Hartes, Kantiges, wie einen schweren Klotz. Doch den Stein in ihrem Bauch gab es nicht wirklich. Sie fühlte ihn, aber er war nicht da. Er war nur ein Knäuel ihrer Angst. Wieder hörte sie ein Bellen. Sie musste Holly in die Burg folgen, es blieb ihr gar nichts anderes übrig.




Das Buch heißt "Die Burg" - Geheimnisse hinter den Mauern".

Es ist eine Gemeinschaftsproduktion von Grit Poppe und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf, unter Leitung von Renate Zimmermann.

Illustrationen:

Henriette Sitterlee (fast alle)

Candy Krüger (eine)

Mara Weinkauf (eine)

Finanzierung: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. 

ISBN: 9783759253408



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