DIE BURG - Stille und Staub

Oh, wie er diese alte Ziege hasste. Und wie sie ihn


02.02.25 Auch in diesem Jahr veröffentlichen wir wieder in den ersten Wochen des Jahres immer sonntags die ersten Kapitel aus dem neuen Buch der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek. 

Stille und Staub

Von Eddie Neumann

Große, dunkle Wolken zogen schwerfällig über den Himmel und tauchten die Welt in eine tiefe Dunkelheit. Es war bedrückend still. Kein Vogel sang, kein Tier schlich durch das Unterholz der weiten Wälder, selbst der Wind in seiner sonst ewigen Unruhe und aufbrausenden Unermüdlichkeit schwieg an jenem Tag. Der Spätherbst hielt Einzug.

Die Türme einer uralten Burg erhoben sich, auf einem steilen Hügel, weit über das umliegende Land. Das Gemäuer bröckelte vor sich hin, ein Relikt aus alten Tagen, langsam zerfallend, stetig vergehend, so wie alles aus alten Tagen zerfällt und vergeht. Die Zeit ließ nur Ruinen übrig von der einstmals stolzen Festung und durch die Mauern und Gänge, durch die Höfe und die Keller der alten Burg hallten die Echos von Erinnerungen wider. Geschichten, die nie erzählt wurden, lagen verborgen, zurückgelassen im Schatten.

So auch diese Geschichte. Sie begann in einem abgelegenen Zimmer weit oben auf dem hohen Dachboden des Gebäudes. Dort lag, in eine leidende Stille gehüllt, ein Dachboden mit einem runden Fenster, das einen Blick über die Wälder bis in die Ferne ermöglichte. Hier gab es nichts außer Staub und modrigem Holz. Nicht einmal die Ratten trauten sich in letzter Zeit noch hier hinaufzuklettern.

Doch sah man genauer hin, so entdeckte man etwas zwischen der Stille und dem Staub. Sobald die Sonne die Wolkenwand durchbrach und das kleine Zimmer mit Licht durchflutete, ließen sich in der glitzernden Luft Träume erkennen, die den Raum mit Wärme füllten. Diese Schätze wurden dort von einem kleinen Jungen namens Wilhelm vor nunmehr zweihundert Jahren zurückgelassen. Dieser Junge war den meisten jedoch als Willi bekannt.

Es war ein kalter Herbsttag vor zweihundert Jahren. Die Sonne hing müde am Himmelszelt, ihr schwaches Licht reichte kaum aus, um sich darin zu wärmen. Willi saß dort, wo er eigentlich immer saß. Am hohen, runden Fenster auf dem Dachboden des uralten Gebäudes. Die Glasscheibe beschlug von seinem Atem. Es war kalt. Der Winter war nicht mehr fern und die Lumpen, die er trug, wärmten ihn kaum.

Doch das war nicht weiter schlimm für den Jungen, denn er hatte etwas viel wertvolleres als teure Kleidung. Für ihn zumindest war es wertvoller. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Und er träumte. Er träumte von großen Abenteuern, die er erleben wollte. In diesen Abenteuern fand er sich auf einem Schlachtfeld wieder. Als tapferer Offizier der königlichen Armee unter Friedrich Wilhelm III sah er sich kämpfen. Furchtlos schlug er mit seinen Kameraden die niederträchtigen Franzosen zurück.

Seine treuen Soldaten gehorchten jedem Befehl und stürzten sich für ihn in die Schlacht, als er den finalen Angriff einleitete. Keiner konnte seine Truppe aufhalten. Kanonenschüsse ertönten, die Feinde schrieen vor Angst. Die Schlacht war gewonnen. Sie jubelten. Alle feierten sie den Helden. Alle feierten sie ihn, Wilhelm. Wilhelm den Tapferen. Er kniete sich vor den König nieder, der ihm einen Ehrenorden verlieh. Dann geschah es. Die Realität holte ihn wieder zurück. Der königliche Thronsaal wurde wieder zum Dachboden, seine Uniform verwandelte sich in ein schmutziges Hemd, die ranghohen Offiziere, die ihm eben noch zujubelten, wurden wieder zu den Ratten, die ihn neugierig anglotzten.

Sein wunderbarer Orden nahm wieder die Form eines alten, einzelnen Pfennigs an, der nicht aus glänzendem Gold, sondern aus Kupfer bestand. Doch sein Pfennig war das Einzige, das für Willi ein Schatz blieb. Vielleicht glänzte er nicht so schön wie ein Silbergroschen, oder wog so schwer wie ein Orden, aber es war sein Schatz und er hielt seinen Schatz ganz fest in der Hand.

Der Junge ging ans Fenster und schaute auf den Stand der Sonne. Es war schon spät. Das war nicht gut. Blieb er zu lange weg, würde ihn Schwester Hilde wieder schlagen. Ihm graute es vor Schwester Hilde, sie war die älteste der Schwestern und stand direkt unter Mutter Maria. In dem Waisenhaus, in dem er lebte, gab es Mutter Maria und zwölf andere Schwestern, alle waren Nonnen. Die jüngste von ihnen war Schwester Amalia mit 23 Jahren. Sie kümmerte sich um die kleinen Kinder. Willi war schon zwölf Jahre alt und hatte sein ganzes Leben in dem Waisenhaus verbracht. Er sah Schwestern kommen und gehen und wurde nach evangelischen Grundsätzen erzogen.

Er kannte auf der Welt nichts anderes als diesen Ort, aber dafür kannte er ihn wie seine Westentasche. Er schlüpfte mit geübten Tritten und Handgriffen durch die engen Korridore, kletterte durch uralte, geheime Gänge und Löcher in der Decke. Der Dachboden war sein Versteck. Sein Zuhause. Das einzige Zuhause, das er je hatte. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, sie war schon immer sehr schwach gewesen, wurde dem Jungen später erzählt. Seinen Vater kannte er gar nicht, doch die Mutter Maria erzählte ihm einst, dass sein Vater vor Willis Geburt bei einer Wirtshausschlägerei ums Leben kam. Er sei ein Säufer und ein Taugenichts gewesen.

Dieser Ort, diese zerfallende Burg, die nun ein Waisenhaus war, war ein böser Ort. Früher hausten hier womöglich Ritter und Fürsten und Abenteuer wurden sich in der großen Halle erzählt. Heute hausten in den Wänden der Schimmel und die Ratten und in der großen Halle, wo die Knaben täglich aßen, war es still. Es war eine angsterfüllte, unerträgliche Stille, denn wer laut war, oder sich nicht benahm, wurde geschlagen. Wer nicht arbeitete, wurde geschlagen. Wer zu lange verschwunden blieb, wurde auch geschlagen oder in den Zwinger gesperrt. Willi fürchtete den Zwinger. Nichts im Leben fürchtete er mehr. In einem dunklen Loch eingesperrt zu sein, war für ihn das grausamste Schicksal auf der Welt. Doch heute hatte er Glück. Die Zählung der Jungen, die täglich vor dem Essen stattfand, hatte noch nicht begonnen, als er in die Halle gestürzt kam. Es fehlten noch einige, er war also nicht der Letzte. Gut. Er fing sich nur einen bösen Blick von Schwester Hilde ein.

Oh, wie er diese alte Ziege hasste. Und wie sie ihn hasste. Einmal schlug sie ihn so furchtbar lange und heftig mit der Rute, dass er ins Krankenzimmer gebracht werden musste. Zwei ganze Wochen lag er im Bett und entwickelte ein furchtbares Fieber. Doch er hatte Glück. Schon viele andere in dem Waisenhaus waren am Fieber gestorben, doch er nicht. Er war stark und deswegen wusste er, dass er es in die Armee schaffen würde. Er wusste, dass er schon bald hier herauskommen würde.

Doch seine Feindschaft mit der Schwester dauerte an. Immer, wenn sie ihn schlug, tat Willi etwas, um es ihr heimzuzahlen. Einmal biss er ihr in den Arm, ein anderes Mal kippte er einen Eimer Kuhmist über sie aus. Die Strafen dafür waren immer mehrere Tage im Zwinger gewesen. Doch der Junge gab nicht auf. Eines Tages würde er es der Schwester endgültig zeigen. Zunächst jedoch war Abendbrot-Zeit. Wie immer beim Abendbrot, war es bedrückend still. Keiner traute sich, ein Geräusch von sich zu geben.

Selbst das Brot kauten sie so leise wie möglich. Nach dem Essen gingen die Jungen zu Bett. Es gab insgesamt fünf Schlafsäle, die mit ihren hohen Decken genauso ungemütlich waren wie der Rest des Hauses.

Unglücklich lagen sie alle in ihren Betten, denn morgen war der letzte Tag der Ernte und es musste noch viel eingeholt werden. Es würde ein langer Tag werden, doch Willi hatte bereits einen Plan, wie er sich davonstehlen konnte. Der Weg zum Feld führte durch einen kleinen Wald hindurch, ein Ausläufer des großen Waldes am unteren Hang der Burg.

Dort bog der Weg um eine scharfe Kurve und führte um einen kleinen Hügel herum. Ein gutes Versteck. Er würde sich in der Mitte der Kinder einreihen und dann kurz hinter der Kurve den Hang hinaufrennen.

So würden ihn weder die Schwestern noch die anderen Jungen sehen. Sein Fehlen sollte auch keiner bemerken, denn bei über dreißig Jungen fiel so etwas nicht auf. Abends würde er sich dann einfach wieder an der gleichen Stelle einreihen.

Mit dieser Vorstellung fielen seine Augen zu und Willi sank in einen unruhigen Schlaf. 


Das Buch heißt "Die Burg" - Geheimnisse hinter den Mauern".

Es ist eine Gemeinschaftsproduktion von Grit Poppe und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf, unter Leitung von Renate Zimmermann.

Illustrationen:

Henriette Sitterlee (fast alle)

Candy Krüger (eine)

Mara Weinkauf (eine)

Finanzierung: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. 

ISBN: 9783759253408



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