DIE BURG - Abenteuer auf vier Pfoten

“So leicht mache ich es dir bestimmt nicht”


09.02.25 Auch in diesem Jahr veröffentlichen wir wieder in den ersten Wochen des Jahres immer sonntags die ersten Kapitel aus dem neuen Buch der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek. 

Abenteuer auf vier Pfoten

Von Bianca Sprotte

Anmutig tapste ich über die schmale Zinne der Mauerkrone, als hätte ich nie etwas anderes getan. Mein rot getigertes Fell schimmerte im Licht der Sonne, wie das Gold der Blätter im Herbst.

“Siehst du Twilight, ich habe dir gesagt, dass ich es kann”, verkündete ich voller Stolz und zuckte leicht mit den Schnurrhaaren. Meine beste Freundin, ein Goldkronen-Flughund, verdrehte bloß die Augen. Anschließend machte sie es sich auf einem Ast gemütlich, der mir gegenüber zur Burgmauer reichte. Sie war etwas größer als die anderen Fledertiere ihrer Art und somit auch größer als ich selbst. Mit meinen 12 Monaten war ich aber auch noch klein und schmächtig. Irgendwann würde ich sie körperlich überragen, da war ich mir sicher.

“Ich habe nie behauptet, dass du es nicht kannst. Ich habe nur gesagt, dass du dich verletzen könntest. Katzen…”
“Können nicht fliegen, ich weiß”, unterbrach ich sie schnell. “Aber das Leben hier ist so langweilig. Nie passiert irgendetwas. Ich möchte einfach mal etwas Spaß haben.”

Um meinen Worten Ausdruck zu verleihen, sprang ich über einen kleinen Spalt hinüber. Der Burgmauer fehlten aufgrund ihres Alters mittlerweile einige Ziegelsteine, doch diese Lücken waren kein Hindernis für mich. Auch die bröckelige Fassade jagte mir keine Angst ein. Als Katze würde ich sowieso immer auf meinen vier Pfoten landen. Darum machte ich mir keinerlei Sorgen um meine Sicherheit. Twilight dagegen sah mir mit Unmut zu.

“Ráva, ich bitte dich, komm da endlich runter.” Sie war solch eine Spielverderberin. Dabei vollführte sie selbst manchmal die verrücktesten Flugmanöver, die ich je gesehen hatte. Aber vermutlich würde ich es als Flughund nicht anders machen.

Ich wandte den Blick zu ihr, ein gehässiges Grinsen im Gesicht.

“Du wirst mich fangen müssen, damit ich runtergehe.” Mein Schwanz peitschte spielerisch durch die Luft und sie atmete genervt aus, bevor sie die Flügel ausstreckte und in meine Richtung flog. Twilight war wirklich eine ausgezeichnete Pilotin und leider blitzschnell, weswegen ich hastig von Stein zu Stein sprang, um ihr zu entkommen.

Durch meine hohe Geschwindigkeit wehte mir die kalte Nachtluft ins Gesicht und einige kleine Kieselsteine lösten sich unter meinen Pfoten, die rapide die Burg hinabstürzten. Ich hatte jedoch keine Zeit, mich darauf zu konzentrieren, denn Twilight war mir dicht auf den Fersen. Ihre Krallen blitzten bereits bedrohlich in meinem Augenwinkel auf. Sie versuchte, mich zu berühren. Sofort erhöhte ich mein Tempo.

“So leicht mache ich es dir bestimmt nicht”, rief ich laut und blickte in ihre Richtung, um ihre empörte Reaktion zu sehen. Sie schlug kräftiger mit den Flügeln, das Gesicht angespannt verzogen. Wenn Twilight etwas fangen wollte, war sie eine eiskalte Jägerin. Die Mäuse in unserer Burg hatten absolut keine Chance gegen sie. Manchmal war ich sogar ein bisschen neidisch auf ihre Fähigkeiten, denn sie fing ihr Abendessen deutlich schneller, als ich es jemals schaffen würde.

Plötzlich stoppte sie abrupt. Ihre Augen wurden groß.

"Vorsicht Ráva!" Sie klang verängstigt. Irritiert drehte ich den Kopf wieder nach vorne. Wenige Meter vor mir klaffte ein Loch in der Burgmauer. Diesen gewaltigen Sprung würde ich definitiv nicht schaffen. Auch wenn ich sehr gerne und viel sprang, kannte ich meine Grenzen. Abrupt bremste ich - aber ich war zu schnell.

Selbst mit meinen scharfen Krallen schlitterte ich unaufhaltsam über den Boden. Panik stieg in mir auf, denn das Randende näherte sich gefährlich. Sollte ich den Sprung doch wagen? Vielleicht würde ich es gerade so schaffen. Im schlimmsten Fall könnte ich mich im Flug drehen und an der Wand abstoßen, um hoffentlich heil am Boden zu landen.

Plötzlich wurde ich grob im Nacken gebissen. Twilight versuchte, meine Geschwindigkeit mit ihren Flügeln abzubremsen. Dabei flatterte sie so heftig, dass der Wind für eine kühle Brise sorgte. Kurz vor dem Abgrund kam ich zum Stehen. Ich starrte ehrfürchtig nach unten.

Mein kleines Herz hämmerte unkontrolliert gegen meinen Brustkorb, während ich in einer Schockstarre verharrte. Mir war nie bewusst gewesen, wie hoch diese Mauer tatsächlich war. Nur wenige Zentimeter trennten mich davon, herauszufinden, ob Katzen wirklich immer auf ihren Pfoten landen. Ich hatte dieser Aussage bisher immer geglaubt, ausprobieren wollte ich es jedoch nicht.

Twilight lockerte ihren Biss und ließ sich erschöpft hinter mir auf den Mauerboden fallen.
“Das war knapp.” Sie atmete schwer aus. “Wehe, du machst so etwas noch einmal!” Der strenge Tonfall in ihrer Stimme ließ mich zusammenzucken. Leicht drehte ich den Kopf nach hinten und blickte über die Schulter zu ihr. Ihr Brustkorb hob und senkte sich rasend schnell. Sie muss wirklich all ihre Kraft aufgewandt haben, um mich zu retten.
“Danke, das hätte böse enden können.” Ich setzte mich ihr gegenüber, wobei ich sie besorgt musterte. “Bist du okay?”, fragte ich, während ich sie mit der Pfote leicht spielerisch am Fuß anstupste. Aus Erfahrung wusste ich, dass sie an dieser Stelle kitzlig war. Der vorwurfsvolle Blick folgte beinahe sofort, genau wie ein genervter Aufschrei.

“Ich wäre okay, wenn du endlich auf mich hören und von dieser Mauer runtergehen würdest!” Sie schlug kräftig mit den Flügeln und war wenig später in der Luft. Wenn sie sich so einfach erheben konnte, war sie wohl doch nicht so stark außer Puste. Ich verdrehte die Augen. “Ist ja gut”, sagte ich und wollte von der Zinne herabspringen, stoppte aber, als ich eine laute Stimme hörte. Meine flauschigen Ohren zuckten aufmerksam. Ich blickte auf der anderen Seite der Mauer nach unten, wo ein mir unbekanntes Geschöpf auf zwei Beinen stand.
“Twilight, was ist das für ein Tier?”, fragte ich meine beste Freundin und musterte den Eindringling neugierig. Als Erstes fiel mir auf, dass das Wesen kein Fell besaß. Auch das Gesicht sah irgendwie merkwürdig aus. Sollte diese Tannenzapfen-ähnliche Wölbung etwa eine Nase sein? Und wo waren die spitzen Reißzähne? Ich hatte solch ein Lebewesen noch nie gesehen. Twilight dagegen war schon an einigen Orten in der Welt gewesen. Demnach wusste sie sehr viel. Sie sah hinab, atmete erschrocken ein.
“Das ist ein Mensch”, rief sie und flog näher zu mir. “Menschen sind gefährlich, wir sollten uns sofort verstecken.” Ich spürte ihre Flügel an meiner Flanke, als sie versuchte, mich zum Gehen zu drängen. Aber ich wollte nicht weg und stemmte mich gegen sie.
“Der Mensch sieht gar nicht gefährlich aus”, warf ich ein. Neugierig legte ich den Kopf schief, als der Zweibeiner immer wieder den Namen ‘Holly’ rief. Das Wesen konnte also auch sprechen. Die Stimme klang so angenehm sanft wie die von Twilight, vermutlich handelte es sich bei dem Menschen ebenfalls um ein Weibchen. Wie schnell sie mit diesen langen Beinen wohl rennen konnte? Schneller als ich auf keinen Fall. Niemand konnte es im Sprinten mit mir aufnehmen, besonders nicht mit dieser aufrechten Fortbewegungsweise.

“Ihr klingt beide sehr ähnlich”, warf ich schließlich ein und beobachtete den Menschen weiterhin mit neugierigen Katzenaugen. Twilight dagegen zuckte angespannt mit ihren Flügeln. Auch ohne in ihre Richtung zu sehen, wusste ich, dass sie am liebsten ganz weit wegfliegen wollen würde.


Das Buch heißt "Die Burg" - Geheimnisse hinter den Mauern".

Es ist eine Gemeinschaftsproduktion von Grit Poppe und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf, unter Leitung von Renate Zimmermann.

Illustrationen:

Henriette Sitterlee (fast alle)

Candy Krüger (eine)

Mara Weinkauf (eine)

Finanzierung: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. 

ISBN: 9783759253408



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