DIE BURG - Mein Kleeblatt

Der Duft von Bratkartoffeln stieg mir in die Nase


23.03.25 Auch in diesem Jahr veröffentlichen wir wieder in den ersten Wochen des Jahres immer sonntags die ersten Kapitel aus dem neuen Buch der Schreibwerkstatt für Jugendliche der Mark-Twain-Bibliothek. 

Mein Kleeblatt

Von Sanya Lehmann

Langsam schoben sich die ersten Sonnenstrahlen über den Hügel, während die Sterne verblassten. Ein leichter Wind wehte über das Dach und nahm meine Gedanken mit fort. Es war die einzige Zeit am Tag, in der ich im Hier und Jetzt stand und von keinen Erinnerungen heimgesucht wurde. Unten auf der Burgmauer, die mittlerweile eher einer großen Ansammlung an Steinen ähnelte, schwebte Fiona und vollzog ihre morgendliche Energieumwandlung.

Ich sah ihr gern dabei zu, obwohl es mich jedes Mal mehr schmerzte, dass ich es nicht mehr tun konnte. Heute waren die Energien vor allem in sanften Grün- und Blautönen aufgeladen. Sie wurden von Fionas Körper angezogen, während sie die Arme ausbreitete und die Augen schloss. Ich beneidete sie, wie die Energien durch ihren Körper waberten, sich vermischten, sie stärkten und farblos wieder aus ihr heraus in den Himmel zogen. Das war für mich die schönste Aufgabe an unserem Geisterleben – die Verarbeitung der Energien, damit unsere Burg und alles darin leben konnte.  Nur, dass sie das jetzt nicht mehr konnte, weil keiner kam und sie bewohnte.


Früher …

Ich schloss verkrampft die Augen. Nein, nicht jetzt schon. Ich krümmte mich und schnaufte. Keine Erinnerung! Als ich wieder aufblickte, sah ich den riesigen Wald. Die Vögel zwitschern und gerade galoppierte ein Pferd zwischen den Bäumen hervor.

„Nevo, hey.“ Aus der Ferne drang eine Stimme zu mir. Ich wurde geschüttelt und blinzelte. „Nevo!“ Der Wald verblasste und ließ das gelbe Meer aus Löwenzahn zurück.

„Wenn du weiter an der Regenrinne klammerst, als würde dein Leben davon abhängen, bricht sie ab und das wird sehr schmerzhaft.“ Ich öffnete die Augen und blickte über die Schulter zu Henry, der skeptisch die Regenrinne musterte. „Tschuldige.“ Tief durchatmend löste ich den Griff von dem Metall und rutschte ein Stück zurück.

„Schon gut“, erwiderte Henry und setzte sich neben mich, mit gebührendem Abstand zur Dachkante. Ich betrachtete ihn. Er sah durchscheinend aus, vielleicht mehr als gestern. Auch wenn Henry immer damit prahlte, dass wir Geister keine Falten bekommen konnten, wirkte er eingefallen und müde, auch wenn er sich Mühe gab, aufrecht zu sitzen. Kurz schloss ich die Augen, wahrscheinlich sah ich genauso aus.

„Ich hab‘ eben einige Steine zurück in die Außenwand gehievt. Sie sind alle wieder rausgefallen.“ Wir seufzten gleichzeitig. Unsere Burg zerfiel und wir suchten seit Jahren nach Möglichkeiten, sie wieder aufzubauen. Nichts funktionierte. Als Burggeister konnten wir nicht direkt in das Realitätsgeschehen eingreifen. Wir sorgten nur für klare Energien, verarbeiteten sie, sodass sich nichts anstaute und neue aufgeladen werden konnten. Nur leider gab es immer weniger, was die Energien auflud.

Ich schaute wieder hinunter zu Fiona. Sie ließ die Arme langsam sinken, die Umgebungsenergien ließen ihren Körper frei und verblassten. Die Pflanzen waren das Einzige, was noch Energie lieferte, sodass Fiona beschwingt durch die

Luft hüpfte und Saltos schlug. Henry stöhnte. „Jetzt fängt das Gehopse wieder an.“

Fiona schwebte von links nach rechts, drehte sich im Sturzflug um sich selbst und trällerte dabei ihre eigene Musik. „Hey Blümchen, hilft uns dein Gezappel irgendwie weiter?“ Ich stieß Henry in die Seite, aber Fiona ließ sich nicht stören und setzte zur Enddrehung an, bevor sie sich langsam auf das Dach schweben ließ und den Kopf zu einer Verbeugung senkte. Ich versuchte zu klatschen, aber mein Körper war zu durchscheinend, als dass ich ein Geräusch verursachen konnte. Angespannt ließ ich die Arme wieder sinken. „Guten Morgen“, trällerte Fiona und streckte sich auf meiner anderen Seite aus. „Schlechter Morgen“, brummte Henry. Ich stimmte ihm still zu. An den letzten wirklich guten Morgen konnte ich mich nicht erinnern.

„Ach, ihr beiden Depris, wie ich sehe, ist immer noch keine Besserung in Sicht.“ Sie musterte uns von oben bis unten. Henry verdrehte die Augen. Im Gegensatz zu unseren Körpern wirbelte Fionas Energie strahlend. „Gut erkannt, Detektiv“, sagte Henry säuerlich und starrte auf ein unbestimmtes Loch im Dach. „Mir fällt nichts mehr ein. Fi, wenn du wirklich an keine Menschen herankommst, die die Energien aufladen könnten, und wir keine Steine bewegen können, dann, dann, …“ Ich stockte und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Fiona schüttelte den Kopf. „Hier ist weit und breit nur Wiese. Meine Sperre hält mich irgendwann auf.“ Wir schwiegen und schauten auf den Horizont, wo die Sonne sich weiter nach oben arbeitete und den Himmel von dunkel- zu hellblau färbte.

„Ich hab‘ keine Lust mehr.“ Ich drehte den Kopf zu Henry, nicht ganz sicher, ob er etwas gesagt hatte. Aber er schaute mich nur an, schwieg und stand auf. „Ich geh‘ dann nochmal Steine schleppen“, murmelte er und verschwand in einem Loch im Dach.

„Ist ihm die Höhe schon wieder zu viel geworden?“ Fiona hatte offenbar nichts mitbekommen. Ich zuckte nur mit den Schultern und schaute wieder zum Horizont. Früher hatten wir zu dritt … nein, keine Erinnerung! Mein Oberkörper krampfte und ich beugte mich nach vorn. Den Wald sah ich schon vor mir, die Kinder lachten.

„Nevo, bleib bei mir!“

Ich schnaufte. Der Duft von Bratkartoffeln stieg mir in die Nase. Einige Frauen standen am Kräuterbeet und zupften in der Erde. Ich schrie und war plötzlich wieder im Hier und Jetzt. Die Frauen waren verschwunden, ebenso die Gerüche. Ich lag eingekeilt in der Regenrinne, über mir stand Fiona und starrte besorgt zu mir runter. „Tschuldige, ich wollte dich vor einer Erinnerung bewahren und da du nicht reagiert hast, habe ich dich gegen deine Sperre geworfen.

Du bist ziemlich leicht geworden.“ „Danke“, schnaufte ich und versuchte mich aufzurappeln. Als Burggeister gehörten wir zur Burg und konnten uns nur in einem bestimmten Rahmen frei bewegen.

Fiona hatte als Geist der Umgebung, dank der halb zerfallenen Burgmauer, den weitesten Freiflug. Henry konnte sich als Geist der Mauern noch ganz nah am Außengemäuer bewegen. Ich dagegen verarbeitete die Energie der Lebewesen in der Burg und hatte sie demnach noch nie verlassen. Und deshalb hatte nur ich Probleme mit Erinnerungen, Flashbacks. Mir gingen die Gefühle und Erinnerungen der Lebewesen zu nah. Früher hatte ich es geliebt.

Fiona half mir auf und wir setzten uns wieder nebeneinander aufs Dach.


Das Buch heißt "Die Burg" - Geheimnisse hinter den Mauern".

Es ist eine Gemeinschaftsproduktion von Grit Poppe und der Schreibwerkstatt der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“ Berlin, Marzahn-Hellersdorf, unter Leitung von Renate Zimmermann.

Illustrationen:

Henriette Sitterlee (fast alle)

Candy Krüger (eine)

Mara Weinkauf (eine)

Finanzierung: Förderverein Stadtbibliothek Marzahn-Hellersdorf e.V.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. 

ISBN: 9783759253408



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