Alle, die sterben werden, opfern ihr Leben einem Ziel
15.01.23 Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr
Prolog
Ab jetzt ist es nur noch ein Knopfdruck, wir sind endlich am Ziel!» Francis ließ sich in die Lehne des abgewetzten Sessels sinken, wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete erleichtert aus. Jetzt würde es also wirklich geschehen.
Nach all dem Leid, das diese Schweine über sie und die anderen gebracht hatten, nach den Monaten des verzweifelten Weinens, fassungslosen Erkennens und wütenden Hassens würde ihnen endlich Gerechtigkeit widerfahren.
Allen!
Sollten sie doch in die Kameras grinsen, wie sie wollten. Dieser Dreckskerl, dessen Unternehmen nach dem Angriff vermutlich um über eine Milliarde wertvoller geworden war, diese grauenvolle Frau, deren politische Karriere ab jetzt nur noch steil nach oben ging oder dieser kleine Wichtigtuer, der allen Ernstes so tat, als habe er gar nicht gewusst, welche Auswirkungen sein Knopfdruck haben würde.
Was für eine Ironie, dachte Francis, dass es nun ebenfalls nur ein Knopfdruck sein würde, der es ihnen heimzahlen sollte.
Nur dass dieser Knopfdruck nicht hinterhältig in der Nacht stattfinden würde, während sie nichtsahnend schliefen.
So still und heimlich wie eine Schlange, die unter ihre Bettdecken kriechen würde. Nein, das wäre nicht angemessen gewesen. Sie sollten ihre gerechte Strafe so erfahren, wie es einzig angemessen war.
Unter den Augen der ganzen Welt. «Es wird unvermeidbar sein, dass Unbeteiligte dabei sterben.» Hans-Werner sah seine Mitstreiter mit einer Note von Schuld in seinem Blick an.
«Haben wir denn eine andere Wahl?»
Pluto verzog keine Miene und sprach mit eiserner Härte, er klang beinahe wie ein Roboter. «Würde es die Welt denn aufschrecken, wenn nur diese drei Monster sterben müssten? Austauschbare Marionetten einer kranken Gesellschaft? Es wäre eine Meldung, ja. Aber wenn wir wirklich etwas in den Herzen der Menschen bewegen wollen, dann müssen wir sie dazu bringen, genau das Leid zu erfahren, dass diese drei Schweine über uns gebracht haben. Es muss wehtun, wirklich wehtun! Wer weint um drei skrupellose Monster?
Nein, so einfach geht das nicht. Alle, die heute Abend sterben werden, opfern ihr Leben einem Ziel, das weit größer ist als alles, was sie lebend noch hätten erreichen können.» Jetzt stand Stille im Raum, und auf eine seltsame Weise fühlte sie sich für alle fünf beinahe selig an. So, als sei sie der Vorbote einer Revolution, die nichts mehr so lassen würde, wie es war. Einem Umsturz, der nicht weniger zu leisten imstande sein konnte, als die ganze Welt zu verändern.
«Habt ihr alles gecheckt?» Shannon erhob sich von der Tischkante und trat vor den Rechner, auf dem das Eingabefeld für den Code aufgerufen war. «Es muss passieren, während sie live sind. Und zwar gleich in den ersten fünf Minuten. Da sitzen noch die meisten vor dem Fernseher, die vorher das Fußballfinale gesehen haben. Wenn wir zu lange warten, schalten die meisten um.» «Es ist alles bereit.»
Friedrich hob den Blick und sah im Rund zu seinen Mitstreitern. «Der Sprengsatz ist direkt unter dem Podium platziert, und alle drei haben zugesagt. Sie werden definitiv im Studio sein. Die Funkverbindung steht, die Zuschauerplätze sind ausverkauft.» Er wandte sich um und sah zu Shannon. «Sobald ich den Sprengsatz durch Eingabe des Codes scharfgeschaltet habe, müsst ihr nur noch auf Enter drücken.»
Hans-Werner schlug so fest mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Wassergläser darauf schepperten. «Warum muss die Bombe durch dieses Passwort geschützt sein? Und warum kennst nur du es? Mir gefällt das nicht, es gibt dir die Möglichkeit, alles noch zu stoppen. Dazu bräuchtest du nicht mal unsere Zustimmung. Soll das vielleicht eine demokratische Aktion sein?» Er warf wütend sein Glas gegen die Wand, das scheppernd zerbrach und sich in Splittern über den Boden verteilte. Auch die Blicke von Shannon und Francis wanderten zu Friedrich. Immerhin, ganz Unrecht hatte Hans-Werner nicht. S
ie alle hatten Angehörige verloren, und das Leid, das es nicht nur über sie fünf gebracht hatte, war mit dem, was sie heute Abend tun würden, noch nicht einmal ansatzweise gerächt. Und es ging ja nicht allein um Rache. Natürlich, sie war ein Teil des Ganzen, ohne Frage. Doch weit wichtiger als die bloße Befriedigung dieses nur allzu menschlichen Verlangens war die Tatsache, dass es eine Warnung sein würde.
Eine Warnung an alle, die sich mit dem Gedanken trugen, zu tun, was diese Drei getan hatten. Und sie würden es verstehen. Sie würden begreifen, dass es nicht nur die anderen waren, die man auf dem Schachfeld ihres Monopoly-Spiels opfern musste, um seine eigene Figur ein paar Felder weiterzubringen. Sie würden verstehen, dass jeder, der mit seiner Entscheidung den Tod Unschuldiger in Kauf nahm, damit unweigerlich auch seinen eigenen beschließen würde.
Ja, die anderen würden es sich in Zukunft genau überlegen, was sie taten. So schnell würden sie keine Drohnen mehr losschicken, keine Kriegshandlungen simulieren. Allein um ihrer persönlichen Interessen willen. «Ich habe es euch doch schon erklärt.» Friedrich schüttelte den Kopf. «In dem Studio ist alles voll mit Funkwellen. Wenn nur eine Frequenz der von unserem Sprengsatz zu ähnlich ist, dann kann es sein, dass die Bombe zu früh losgeht.
Bevor die drei überhaupt im Studio sind. Die Bombe darf erst im letzten Moment aktiviert werden, und diesen Code kann ich niemandem anvertrauen. Was, wenn wir einen Maulwurf unter uns haben? Oder wenn einer von euch plötzlich kalte Füße bekommt und die Aktion abbrechen will? Er könnte die Bombe mit dem Code einfach deaktivieren, dann wäre unsere Arbeit von über einem Jahr zerstört.»
«Also gut.» Francis streckte die Hände von sich, als wolle sie dadurch die anderen miteinander verbinden. «Dann schalte wenigstens schon mal ins Studio, damit wir sehen können, dass da alles nach Plan läuft.» Friedrich hatte nicht nur den Sprengsatz platzieren lassen. Er hatte auch dafür gesorgt, dass er eine der zahlreichen Studiokameras anzapfen und sie jederzeit live in ihre Zentrale zuschalten konnte. «Wenn es euch beruhigt …»
Er trat von der Tür weg, gegen die er bislang gelehnt gewesen war, und machte sich auf den Weg zu Shannon, die noch immer vor dem Computermonitor stand. «Vorsicht, die Scherben!» Shannon rief laut auf und deutete auf die Glassplitter. Friedrich hielt schlagartig seinen Schritt ein, sah zu Boden, erkannte, dass er gerade dabei war, auf eine besonders große Scherbe zu treten und zog seinen Fuß weg. Der Ruck seiner ungeplanten Bewegung ließ ihn sein Gleichgewicht verlieren, auf der Suche nach Halt griff seine Hand ins Leere, und noch ehe er sich versah, hatte er auch schon das Gleichgewicht verloren und war mit dem Hinterkopf gegen den steinernen Kaminsims geschlagen.
Leblos stürzte er zu Boden. «Friedrich?» Shannon war sofort zu ihm gestürmt und hatte sich neben ihn auf den Boden gekniet. Doch da sah sie auch schon seine leeren, starren Augen, während Blut aus seinem Schädel lief. «Ist er …» Hans-Werner wagte es nicht, seine Frage zu beenden. Es war ohnehin offensichtlich. «Verdammte Scheiße!» Francis stampfte mit dem Fuß auf den Boden. «Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Friedrich war der Einzige, der die Bombe zünden kann. Nur er kennt den Code!» «Aber so einen Code muss man doch knacken können.» Hans-Werner versuchte, die Ruhe zu bewahren, was unter den gegebenen Umständen nicht eben einfach war. «Ach ja?» Francis sah ihn an, als wolle sie ihn am liebsten ebenfalls gegen den Kaminsims werfen. «Und wo bekommen wir bis heute Abend so einen genialen Hacker her, der sich von uns dazu bringen lässt, ein halbes Fernsehstudio in die Luft zu sprengen? Sieh es ein, wir sind komplett am Arsch!» «Nicht unbedingt.» In Shannons Blick war Hoffnung zu lesen, und sofort wirkte sich dies auf die anderen aus. «Friedrich hat uns doch neulich etwas erzählt. Das könnte eine Chance sein, die Aktion noch zu retten.» «Du meinst doch nicht etwa …?» Hans-Werner schien verstanden zu haben, wenn es ihn auch nicht eben zuversichtlicher machte. «Aber das wäre ja so, als würde man den entscheidenden Elfmeter im WMFinale von einem der Balljungs schießen lassen.» Shannon sah noch einmal zu Friedrich. Er war offensichtlich tot. «Hat jemand hier eine bessere Idee?“
Fortsetzung folgt nächsten Sonntag