Nun war auch Marie verschwunden, für immer.
22.01.23 Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr
Kapitel 1
Ein ganz normaler Samstag war es, sollte man meinen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und die Luft war noch feucht von der Nacht. Ein schöner Morgen für Anfang November. Kaum Leute waren auf den Straßen zu sehen, die ganze Stadt verfiel an den Wochenenden langsam in die allmähliche Winterruhe.
Auf dem Schulhof der Mark-Twain-Gesamtschule jedoch versammelte sich an diesem Samstagmorgen eine kleine Gruppe von Schülern. Gelangweilt und mit genervten Mienen schlüpften sie auf den Schulhof. Ahnungslos blieben sie vor dem Haupteingang des in die Jahre gekommenen Schulgebäudes stehen.
Ah, die Truppe zum Nachsitzen. Auch diesen Samstag wurden einige Schüler für ihre Untaten bestraft.
Die üblichen Verdächtigen, aber auch neue Gesichter waren dabei. Keiner der Schüler wusste, dass dieses Nachsitzen ihr ganzes Leben verändern würde. Für manche mehr, für andere weniger. Doch halt, soweit sind wir noch nicht. Die Gruppe, bestehend aus den sechs Schülern, die mit getrübten Gesichtern fröstelnd auf dem Schulhof standen, hätte verschiedener nicht sein können.
«Was, nein, das glaube ich nicht. Amy-Lamy, du bist auch hier?! Na, was hast du angestellt? War dein Rock etwa zu kurz?», sprach Jannes plötzlich Amy an.
Jannes, oder auch der Klassenclown und SchulPrankster, war wie immer unter den Nachsitzern. Jede Woche heckte er irgendeinen neuen Schwachsinn aus und hielt sich dabei für den Coolsten der Welt. Dämlich lachend über seinen eigenen Wortwitz, sah er sich nun in der wartenden Truppe auf dem Schulhof um. Er warf seine blonden Haare von einer Seite zur anderen und steckte die Hände lässig in die Taschen seiner hellblauen Jeans, die gerade so auf seiner Hüfte hing und seine Unterhose samt Markenschriftzug gut zur Schau stellte.
«Das geht dich gar nichts an! Halt einfach deine große Fresse, du Arsch!», antwortete ein blasser Junge aus dem Hintergrund. Er stand etwas abseits von der Gruppe, weil er später dazugekommen war. Eigentlich war er erleichtert, als er die anderen noch auf dem Schulhof stehend antraf, da er schon wegen seiner erneuten Verspätung mit dem Tobsuchtsanfall des Hausmeisters gerechnet hatte. Auch für ihn war es nicht das erste Mal Samstagsnachsitzen. Tom hatte schon des Öfteren Probleme wegen seiner impulsiven Art gehabt.
«Tom, ist schon gut. Bleibt ruhig! Ignoriere Jannes einfach», wandte sich Amy beruhigend an ihn. «Aww ja, Tommy Boy bleib ruhig, ignoriere ihn einfach», äffte Jannes Amy nach. Amy guckte nur bedrückt zu Boden auf ihre bunten Sneaker und rutschte ihre pastellfarben gemusterte Strickjacke zurecht. Das war nicht das erste Mal, dass Jannes sich auf ihre Kosten amüsierte. Sie hatte noch nie etwas dagegen gesagt.
Dennoch schmerzte es sie. Sie strich sich ihre pinken Haarsträhnen aus dem Gesicht. Tom hingegen war von ganz anderer Natur. Er konnte das nicht so einfach auf sich beruhen lassen. Und vor allem wollte er nicht, dass jemand so mit Amy umging. Tom und Amy waren schon seit Kindertagen befreundet. Für Tom war Amy immer wie eine jüngere Schwester gewesen, die er um jeden Preis beschützen wollte. Er meinte es fast immer gut, doch die wenigsten konnten das auch in ihm sehen. So war er auch dieses Mal zum Nachsitzen verdonnert worden, als er versucht hatte, Amy zu verteidigen und dabei im Affekt eine Flasche Wasser über ihren Mobbern verschüttet hatte.
Er sah Amys Beklemmung durch die dummen Kommentare von Jannes. Dieser Idiot, dachte er nur. Wut stieg in ihm auf und wollte unbedingt an die Oberfläche. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er merkte, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte. Jannes’ dämliches Gelächter machte das keineswegs besser. Kurz vor der Explosion wurde seine Anspannung durch eine sanfte, aber selbstsichere Stimme durchbrochen.
«Man Jannes, hör doch mal auf mit der Scheiße! Lass sie doch einfach in Ruhe!», mischte sich Zara ein und legte einen Arm um Amy. In Zaras Blick allein konnte man schon die starke Abneigung erkennen, die sie gegen Jannes hegte. Und sie wollte, dass er das auch wusste. Mit ihren braunen Augen warf sie ihm einen derartig spitzen Blick zu, dass man auch von einem Todesblick hätte sprechen können.
Nie hatte sie verstanden, wie ihre Freundin Helena sich mit einer Person wie ihm abgeben konnte. «Amy, mach dir nichts draus und ignoriere diesen Schwachkopf einfach. Er kann doch nichts dafür, dass er sich, seit er drei Jahre alt geworden ist, anscheinend nicht weiterentwickelt hat. Er zählt genau zu den 3,5 Prozent, die den Schulabschluss nicht schaffen. Aber als würde ihn das interessieren», fügte Zara noch hinzu.
«Man, Zara, sei doch nicht so fies!» Nun mischte sich auch Helena ein, ein großes blondes Mädchen, das sehr viel Wert auf sein Äußeres legte. Sie war mit beiden eng befreundet, was nicht immer einfach war angesichts Zaras Abneigungen gegen Jannes. «Lassen wir dieses Thema doch jetzt einfach ruhen und gucken lieber, wie wir jetzt in die Schule kommen. Im Endeffekt ist es doch auch völlig egal, warum wir jetzt hier sein müssen oder nicht», sagte Helena bestimmt, während sie wild mit den Armen fuchtelte.
«Na, so egal ist das nun auch wieder nicht. Immerhin hast du Jannes bei seinem dämlichen ‹Auftritt› auch noch geholfen», sagte Zara mit Enttäuschung in der Stimme. «Du meinst meinen hammergeilen Strip im Unterricht bei der heißen Referendarin, oder?», sagte Jannes frech grinsend. Zara wollte darauf nicht antworten, sie verdrehte nur die Augen und schüttelte den Kopf. «Ich habe ihm nicht bei seinem Auftritt geholfen! Ich habe das nur für die Nachwelt aufgezeichnet», antwortete Helena mit einem Schmunzeln.
«Und außerdem ist das nicht der Grund, warum ich nachsitzen muss», sagte sie und wurde plötzlich ganz kleinlaut. «Echt nicht? Ich dachte, du bist auch wegen meiner Begabung als Stripper hier?», fragte Jannes verwundert. «Nein, deshalb bin ich nicht hier. Dieser perverse Religionslehrer, Herr Schmitt, hat mich schon wieder darauf hingewiesen, dass mein Rock angeblich zu kurz ist. Dabei guckt mir dieses Ekel doch sonst auch immer auf den Arsch. Und jetzt wollte er plötzlich, dass ich mich umziehe. Wahrscheinlich, weil er sich sonst nicht mehr beherrschen kann. Bäh, disgusting, dieser Pädo.» Helena schüttelte sich vor Ekel.
«Naja, wenn du dich mal richtig anziehen würdest, dann hättest du dieses Problem nicht», warf Zara ein. «Ja Mom», neckte Helena ihre Freundin. Beide schmunzelten. «Und wenn du dich mal bei den Lehrern durchsetzen würdest, dann würden sie dir nicht immer Betrugsversuche vorwerfen und du wärst auch nicht hier, Zari.» «Was soll ich machen, Helena?! Ich habe schon so oft versucht, mich zu rechtfertigen und nie hat es was gebracht. Unsere Lehrer glauben mir einfach nicht, und das gefühlt seit Beginn der Schulzeit.
Irgendwie kann sich unsere Gesellschaft nicht vorstellen, dass auch Schüler aus nicht so wohlhabenden Elternhäusern besondere Leistungen erbringen können. Aber was soll’s.» «Schule ist eh scheiße», kommentierte Jannes. «Naja, Bildung ist schon wichtig», entgegnete Amy leise. «Bildung ist wichtig», äffte Jannes Amy nach. «Warum bist du eigentlich hier, Amy-Lamy?», fragte Jannes neugierig. Amy schwieg. «Na, wegen dem Häschen, oder?», antwortete Helena an ihrer Stelle. «Wegen dem Höschen? Ahahaha!» Jannes fing an, hysterisch zu lachen. «Wegen des Hasens, du Affe!», rief Zara und verdreht die Augen bei dem Anblick von Jannes.
«Aww, der war sooooo süß! Und Frau Bulkova hat voll überreagiert», sagte Helena, ohne auf Jannes oder Zara einzugehen. «Naja, sie hat allergisch reagiert, oder? Und mit so einer allergischen Reaktion ist nicht zu spaßen», erklärte Zara. «Klärt mich jetzt mal jemand auf, ich verstehe es nicht. Was hat Amy-Lamy jetzt mit ’nem Hasen gemacht?», fragte Jannes verwirrt. «Kaninchen, eigentlich war es ein Kaninchen, du Idiot.
Und Amy wollte es nur retten, nachdem sie es auf dem Schulweg gefunden hatte. Aber diese blöde Lehrerin musste ja so überreagieren, hat sie dann rausgeworfen und ohne mit der Wimper zu zucken bestraft», klärte Tom die anderen auf. «Ach, musst du jetzt auch noch für Amy-Lamy sprechen, Tommy Boy, oder was?», fragte Jannes provozierend. «Ich mache, was ich will, hörst du, du Arschloch!» Tom wurde wieder wütend.
«Tom, alles gut, Jannes ist und bleibt ein Arsch, reg dich nicht über ihn auf, er ist es nicht wert.» Amy streichelte beruhigend Toms Schulter. «Aww, muss Amy-Lamy dich wieder beruhigen?! Nimm einfach deine Pillen, Mann!», sagte Jannes spöttisch. «HALT DIE FRESSE!» Tom konnte nicht mehr vor Wut und brüllte den ganzen Schulhof zusammen. Er schien auf die ganze Welt wütend zu sein und Jannes brachte sein Fass zum Überlaufen.
«Boa, Leute, haltet einfach die Schnauze, ihr nervt so hart, ne.» Da mischte sich plötzlich ein abseitsstehender großer Junge ein, der zuvor in sein Smartphone vertieft gewesen war und recht unbeteiligt mit auf dem Schulhof wartete. Es war Markus. Bei ihm wunderte sich keiner, warum er zum Nachsitzen kam. In der ganzen Schule war er als KifferMarkus bekannt. Fast jede Woche ließ er sich erwischen. Bevor irgendjemand dazu etwas hätte sagen können, öffnete sich die große Eingangstür mit einem lauten Quietschen. Ein älterer Mann mit Halbglatze und Latzhose trat heraus und verankerte wütend die Tür.
Dann stampfte er die Treppen hinunter zu den Wartenden. «Wat soll denn dat Rumjeschreie am frühen Morjen? Und warum stehta hier überhaupt noch? Is denn keener von euch Flachzangen mal uff die Idee jekommen, zu klingeln? Ick warte seit ner halben Stunde uff euch Bälger. Und jetzt ab mich euch! Wir haben nich den janzen Tach Zeit! Ach so, die halbe Stunde bleibta aber definitiv länger und macht eure Arbeit fertich. Diese Kinder von heute …» Die Gruppe war auf einen Schlag still. Keiner wollte den Hausmeister noch wütender machen. Langsam setzten sich alle in Bewegung. «Wird’s bald? Oder brauchta erst ne schriftliche Einladung, oder wat?»
Alle wussten, dass mit dem Hausmeister nicht zu spaßen war und beeilten sich, ins Schulhaus zu kommen. Drinnen versammelt, kramte Hausmeister Markgraf nach seinem Schlüsselbund und führte die Gruppe anschließend zum Treppenhaus, um sie ins Kellerarchiv zu ihrer Strafarbeit zu bringen. Noch bevor sie das Treppenhaus erreichten, hörte man wie aus dem Nichts laute Musik durch die leeren Gänge hallen.
Hausmeister Markgraf blieb abrupt stehen, und die Schüler taten es ihm gleich. «Wat is’n dat jetzt für ne Scheiße? Is dat einer von euch jewesen?» Er drehte sich zu den Schülern um und sah jedem einzelnen tief in die Augen. Fast synchron schüttelten alle Nachsitzer ihre Köpfe. Auch sie waren verwundert über die plötzliche Geräuschkulisse.
Der Hausmeister schien ratlos. Noch bevor er sich überlegt hatte, was er jetzt tun sollte, kam ein aufgedrehtes, platinblondes Mädchen mit pinker Schleife im Haar und einem Selfiestick in der Hand um die Ecke. Ihr Handy war die Quelle der lauten Musik. Sie schien die anderen aber gar nicht zu bemerken und tanzte fröhlich weiter für ihre Aufnahme. So vertieft, wie sie war, lief sie dem Hausmeister direkt in die Arme und rempelte ihn heftig an. Vor Schreck schrie sie auf. «Oh mein Gott, Alter, haben Sie mich erschreckt!
Puh, mir wär fast mein Handy runtergefallen und das wär echt schade gewesen, weil ich hab das ganz neue Pro X Super …» Sie wurde vom Hausmeister unterbrochen. «Zappalot, wat machst du denn hier für ne Multimedia Show? Wie biste überhaupt rinjekommen?» «Oh, das war ganz einfach. Im Bioraum in der ersten Etage ist doch immer das Fenster angekippt wegen der Algenzucht. Und naja, ich hab´ da so ein Dingens bestellt, damit ging das Fenster ganz einfach auf. Tja, und dann bin ich durch die Vorbereitungsräume spaziert, die sind ja nie abgeschlossen und, ja dann …» Wieder wurde sie von Hausmeister Markgraf unterbrochen.
«Mädchen, dir is schon klar, dat dit Einbruch is? So Schluss jetzt mit dem Firlefanz, du kommst jetzt mit.» «Aber lassen Sie mich doch zuerst noch …» «Nein, mir reicht dit jetzt aber jehörig! Wir jehen jetzt alle runter in den Keller und ick will keen Wort mehr hörn.» Bestimmt drehte sich Hausmeister Markgraf um und lief mit festem Schritt Richtung Treppenhaus. Die Nachsitzergruppe, die jetzt ein neues Mitglied hatte, folgte ihm schweigend.
Als sie im Keller angekommen waren, trauten sich die ersten wieder leise zu flüstern, während der Hausmeister noch den richtigen Schlüssel suchte. «Lucia, was machst du denn hier?», flüsterte Amy Lucia zu. «Na ich wollte einen Vlog drehen! Meine Followers fahren auf sowas voll ab, ich sag’s dir! Ich wusste ja gar nicht, dass hier heute jemand ist», flüsterte Lucia zurück. «Samstags ist doch immer Nachsitzen, das weiß man doch», antwortete Amy und guckte zum Hausmeister, der aber immer noch beschäftigt war.
«Ja, stimmt, aber irgendwie habe ich das wohl vergessen. Man ey, so ein Mist. Ich muss nach Hause und das neue Video schneiden!» «Hier jeht jetzt erstmal keener nach Hause. So, dat hier is der Raum, um den ihr euch kümmern sollt. Allet alte Akten, die dringend entstaubt und alphabetisiert werden müssen. Ihr habt bis 16 Uhr dafür Zeit, dann muss ick hier wieder absperren», erklärt Paul Markgraf den wenig begeisterten Schülern. «Klo is den Gang runter und wenn wat sein sollte, ick bin hinten im Büro», sagte er. «Boa, hier ist ja gar kein Netz! Wie soll ich denn dann Insta-Storys machen?», beschwerte sich Lucia genervt.
«Hier macht jetzt keener von euch irjendne Story. Ihr sollt arbeeten. So, wartet, ihr jebt mir ma eure Handys gleich mit. Hier unten könnta eh nüscht mit denen anstellen, die Mauern sind zu dick. Ick leje die hinten ins Büro und ihr bekommt die wieda, wenna jeht.» Hausmeister Markgraf griff neben sich in eine kleine verstaubte Kommode und holte eine kleine Kiste hervor. Dann lief er reihum die Schüler ab und kassierte ihre Handys.
Mit genervten Blicken legten alle wider Willen ihre Smartphones in die kleine rote Kiste. «So, denn wünsch ick euch viel Spaß, ne. Jut, bis später.» Er drehte sich um und machte sich auf den Weg nach oben. Die Schüler blieben unmotiviert und etwas ratlos zurück. «Halt, Herr Markgraf, Ihr Schlüssel!», rief Amy plötzlich. Doch im selben Moment hörten sie die schwere Kellertür zufallen. «Zu spät, Amy, er ist schon oben. Egal, gib sie ihm einfach nachher, wenn wir gehen», sagte Lucia zu Amy. «Haha, ja genau gibs ihm!», lachte Jannes.
Die anderen verdrehten nur die Augen. «Boa Jannes, musste das sein?», fragte Helena genervt. «Wo sollen wir denn jetzt hier überhaupt anfangen?» Amy lief verzweifelt durch den Raum. «Das ist so viel, wie sollen wir das an einem Tag schaffen?» «Am besten wir teilen uns auf: Ich und Helena, wir übernehmen die 20 21 I I Regale hier vorn, Amy und Tom die drei da hinten und Jannes, Markus und Lucia, ihr macht die da auf der anderen Seite. So sollten wir am schnellsten fertig werden», sagte Zara bestimmt. «Gut Leute, Zari hat recht, lasst uns loslegen», stimmte Helena Zara zu.
Die anderen nickten und begaben sich dann langsam an ihren Arbeitsplatz. Keiner von ihnen ahnte, dass dieser Keller zu ihrem Gefängnis werden würde … Während die Schüler im Keller an die Arbeit gingen, lief Paul Markgraf pfeifend zu seinem Büro, um die Kiste mit den Handys abzulegen. Er ließ einen flüchtigen Blick über all die mobilen Endgeräte schweifen und seufzte. «Und wegen dem Muff kiekt ihr nich mehr in eure Bücher und lernt ordentlich, wa? So’n Schund …» Er lief den Gang entlang und bog dann nach rechts ab.
Da saß vor ihm plötzlich eine Schildpattkatze und guckte ihn direkt an. Als er stehenblieb, erhob sie sich, lief direkt auf den alten, leicht bäuchigen Mann zu und schnurrte um seine Beine. «Ach meine Flora …», seufzte der Mann, bückte sich hinunter und streichelte der Katze sanft über den Rücken, was diese zuließ, ehe sie wieder davonlief und um eine Ecke verschwand. Als sich Herr Markgraf wieder erhoben hatte, dabei klimperten die Handys in der Kiste etwas umher, rückte er seine Rundbrille zurecht und setzte sich wieder in Gang.
Glücklicherweise war samstags ja niemand da, mal von den Nachsitzern, die ihren Raum nicht verlassen sollten, abgesehen, der sich über Flora beschweren konnte. Er mochte es, sie um sich zu wissen. Wann immer er das Kätzchen ansah, erschien wieder das Bild vor seinem inneren Auge, wie seine Marie es immer im Arm gehalten hatte. Selbst, wenn ihr Tag noch so schwer gewesen war, die Katze hatte ihr jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, so, als könne sie alle Sorgen der Welt mit einem Maunzen davonwischen.
Und, wie auch immer sie es angestellt hatte, seine eigenen Sorgen waren mit denen seiner Marie gleich mitverschwunden. Nun war auch Marie verschwunden, für immer. Aber die Katze war noch da. Immerhin sie war ihm geblieben. Bisher hatte es nie wirklich Probleme gemacht, dass Flora in der Schule ab und zu gesehen wurde. Notfalls gab er sie als Streunerin aus, damit die alte Schnepfe von Direktorin nichts sagte.
Aber Flora zog ihr Ding durch und ließ sich auch selten blicken. Herr Markgraf war noch ganz in Gedanken an die Tage mit seiner Marie versunken, da stand er schon vor seinem Büro, öffnete automatisch die Tür und trat ein. Noch einmal entfuhr ihm ein lauter Seufzer. Er ging zu seinem Schreibtisch, legte die kleine rote Kiste an die Seite und ließ seinen Blick einmal über die ausgebreiteten Unterlagen schweifen. Unter ihnen lag auch ein Foto des Haupteingangs. «Ach du meine Jüte …», murmelte Herr Markgraf.
Er hatte die Haupttür nicht abgeschlossen. Er griff in seine Hosentasche, während er sich wieder umdrehte und aus der Tür gehen wollte. Aber das gewohnte Klimpern, gefolgt von dem Gefühl des kalten Metalls an seinen Fingern, blieb aus.
«Ja wat is denn dit jetzte?», murmelte er erneut und blickte noch einmal zum Schreibtisch. Keine Schlüssel. «Ick muss dit Ding bei den Kindern jelassen haben … ach wat soll denn der Jeiz.» Er lief zurück zum Schreibtisch, zog gezielt die untere rechte Schublade auf, griff nach ganz hinten und holte eine kleine Box hervor. Darin lag der zweite Generalschlüssel, nach dem er nun griff. Den anderen Schlüssel würde er sich später holen, was sollen die schon groß in der Zwischenzeit damit anstellen? Ja natürlich, der wird noch auf dem Regal neben der Tür liegen, da hatte er ihn hingelegt, bevor er die Handys eingesammelt hatte.
Aber ehe er nun zurücklief und dann wieder her, nein, er würde jetzt erst einmal die Haupteingangstür abschließen gehen und danach in Ruhe den Schlüssel holen, dann konnte er auch gleich sehen, wie die Kinder vorangekommen waren. Hoffentlich waren sie von allein auf die Idee gekommen, die Staubtücher neben der Tür zu nehmen. Damit keines der Kinder in seiner Abwesenheit sein Handy zurückholen konnte, schloss er das Büro vorsichtshalber ab. Zwar sorgten die dicken Kellerwände schon gut dafür, dass die Strafarbeit ohne Telefon und Internetempfang ablief, aber wer weiß, ob sie sich ohne das alles beschäftigen konnten.
«Sicha is sicha, damita heute och wirklich wat schafft, ne? Letztes Ma war dit ja echt nüscht, wat da rumjekommen is …» Er lief den Gang entlang und dann erneut nach rechts, um zu den Treppen nach oben zu gelangen. Seine Flora war nirgends zu sehen, auch wenn er extra noch einmal nachsah, ob sie nicht auf der Treppe auf ihn gewartet hatte. Er hielt den leicht klimpernden Schlüssel in der Hand, und als er die Treppen langsam, aber sicher erklommen hatte, hob er den Schlüsselbund und wollte gerade schon einmal den passenden Schlüssel heraussuchen, da hörte er Schritte.
Er sah den Gang entlang und blieb stehen, um zu lauschen. Hatten ein paar Schüler etwa ausgenutzt, dass er die Tür offengelassen hatte? Die Nachsitzer waren vollzählig, sogar eine mehr war ja spontan erschienen. Kaum hatte er sich also wieder in Bewegung gesetzt, hörte er Stimmen, die ihm im leeren Gang entgegenhallten. Nur wenige Sekunden später erschienen an dessen Ende plötzlich mehrere Gestalten, offenbar geradewegs aus dem Eingangsfoyer kommend.
«Ey, wer seid ihr denn jetzte? Seid ihr etwa spontan ooch zum Nachsitzen verdonnert worden?», rief ihnen Herr Markgraf entgegen und rückte seine Brille zurecht in der Hoffnung, dadurch die Eindringlinge zu erkennen. Diese jedoch verstummten ebenso plötzlich wie sie erschienen waren, blieben abrupt stehen und starrten nur in seine Richtung. «Ey ihr Blagen, ick rede mit euch, wat isn dit fürn Benehmen hier? Wollt ihr etwa ooch nen bescheuertes Video drehen, oder wat soll dit hier werden?», rief er ihnen entgegen, während er langsam in ihre Richtung lief.
Immer noch sagte keiner etwas, sie drehten nur ihre Köpfe und sahen sich gegenseitig an. Mittlerweile war Herr Markgraf aber so nah herangekommen, dass er erkannte, dass die Menschen viel zu alt aussahen, um Schüler an dieser Schule zu sein. Er konnte sie aber auch sonst nicht zuordnen, sie waren weder Lehrkräfte noch Schulpersonal im weiteren Sinne. «Wer …» setzte der alte Mann erneut an, wurde dieses Mal aber unterbrochen.
«Guten Morgen, der Herr.» Eine der beiden Frauen trat hervor, sie war recht groß, aber eher hager und trug ebenfalls eine Brille. Ihre langen glatten Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden und sie blickte den älteren Hausmeister freundlich an. Hinter ihr stand noch eine weitere Frau, deren Haare aber kurz geschoren waren und die aus ihren hellen Augen Herrn Markgraf groß ansah, außerdem zwei Männer. Während der eine etwas kurz, aber muskulös wirkte, war der andere nur leicht unterdurchschnittlich groß für einen Mann und etwas rundlich.
«Äh, juten Morjen, die Herrschaften», erwiderte der Hausmeister, etwas überrumpelt, dass vier Fremde plötzlich Samstagvormittag im Schulflur erschienen waren. «Ich entschuldige mich sehr für die Unannehmlichkeiten, wir werden auch nicht lange brauchen», sprach nun wieder die blonde Frau. «Wat? Wofür denn?», wunderte sich Herr Markgraf. Die Frau blickte überrascht, schaute dann über ihre Schulter kurz zu ihren Begleitern und erwiderte: «Oh nein, hat man Ihnen etwa nicht Bescheid gegeben, dass wir heute kommen?»
Bedauern klang in ihrer Stimme mit. Ihre Begleiter schwiegen immer noch. Herr Markgraf blickte zwischen ihnen hin und her und sah die Frau skeptisch an. «Und wofür bitte solln Se heute jekommen sein?», fragte er immer noch skeptisch und umfasste den Schlüssel in seiner Hand fester. Die Frau lachte leise auf. «Wir sind da, um die Alarmanlage auf Herz und Nieren zu prüfen. Das geht ja schlecht unt …» Der Hausmeister unterbrach sie barsch.
«Was’n das fürn Schmarrn! Dafür sind meine Kollejen und ick zuständig und nicht irgendwer von sonstwo. Und jetzt verlassen Se bitte dieses Grundstück, dann verjess ick ooch, dass Se hier unbefugt rinjelatscht sind, weil die dämliche Tür offen war. Gucken wollten Se, wa? Is ne stinknormale Schule, da können Se sich sicha sein und nu aber raus hier!» Er wurde immer lauter und sprach sehr bestimmt. Dann zeigte er in die Richtung, aus der die vier gekommen waren und in deren unmittelbarer Nähe die Haupteingangstür war, die er nun lieber früher als später absperren wollte.
Wahrscheinlich musste er danach noch einen extra Kontrollgang machen, ob auch kein anderer Experte einfach die ungewollte Einladung angenommen hatte und nun durchs Schulhaus scheißerte. Die Schlüssel klimperten nun laut. «Aber nein, mein Herr, wir sind wirklich …», setzte die Frau an und hob beschwichtigend die Hände.
«Nenene, Sie brochen mir hier ja nüscht vorgaukeln, da is keene Ankündigung und nüscht bei mir anjekommen und dit muss es immer, wenn wat is. Also jetzt raus hier, aber dalli, ehe ick die Polizei noch rufn muss.» Er lief auf die vier Personen zu und zeigte noch einmal in die Richtung, in die sie zurückgehen sollten, was die Schlüssel noch einmal laut klimpern ließ. «Los raus hier, letzte Warnung!», rief er. Die blonde Frau ging einige Schritte rückwärts, die andere Frau wisperte ihr mit großen Augen zu: «Shannon, was sollen wir jetzt machen?»
Da trat plötzlich der kleinere der beiden Männer hervor und baute sich auf. «Ey, jetzt mal langsam hier, alter Mann. Du hast uns gar nichts.» Lautes Schlüsselklimpern und das Rufen von Herrn Markgraf unterbrach ihn. «Raus hier! Ick glob, euch fehlt ne Jehirnzelle, ick hab jesagt, ick ruf die Polizei, wenn Ihr eure Hintern hier nich sofort rausbewegt! Dit is unbefugtes Betreten, wenn nich sojar Einbruch, und dit am hellichten Tag och noch!» Der Hausmeister stand nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt, da bemerkte Shannon, wie die Frau hinter ihr, die ihr gerade noch ins Ohr geflüstert hatte, sich plötzlich auffällig viel bewegte.
Im nächsten Augenblick stand Francis neben Shannon und hielt ihre Hände in Richtung Hausmeister. Nein. Nicht nur ihre Hände. «Mein Jott, was …», den Satz konnte der Hausmeister, der die Augen weit aufgerissen hatte, nicht mehr beenden. Er würde ihn bedauerlicherweise nie beenden. Ein lauter Knall zerschnitt die Luft und setzte der Diskussion ein abruptes Ende. Der alte Herr Markgraf sank augenblicklich zusammen und regte sich nicht mehr.
Der Schuss hallte noch einige Sekunden im leeren Eingang wider und schien die schneidende Stille, die darauffolgte, zu untermauern. Der reglose Körper des Hausmeisters zeichnete eine erschreckende Szenerie ab und für eine kurze Zeit schien sich keiner der Terroristen zu bewegen oder nur zu atmen. Es dauerte mehrere Minuten, ehe auch nur eine Person wieder zu Worten fand. «Oh oh mmein Gott …» stammelte die sonst so ruhige Shannon. Sie hielt völlig unter Schock die Hand vor ihren Mund und schien am ganzen Körper zu zittern.
«Du hast gerade einen … einen Mord begangen.» stotterte Shannon. «Boah echt krass, du hast ihn wirklich kaltblütig abgeknallt, hätte ich nicht gedacht», entgegnete Pluto kalt, den Blick nach unten gerichtet. Die anderen brachten vor Schock immer noch kein Wort zustande. Nach einer kurzen Pause ergriff Shannon erneut das Wort. «Sag mal, was zur Hölle sollte das denn bitte??», zischte Shannon empört Francis an.
«So war das aber nicht geplant! Und wo um Himmels Willen hast du überhaupt die Waffe her???» Francis hielt die Waffe in ihren leicht zitternden Händen noch auf den Hausmeister gerichtet. Es schien, als wäre sie eingefroren. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. «Francis?? Möchtest du uns bitte erklären, was das sollte? Du kannst nicht einfach jemanden umbringen!! Wie sollen wir da sauber davonkommen, wenn wir jetzt wild um uns schießen, nur weil einer von uns kurz die Fassung verliert?», fragte Hans-Werner, dessen kleines, rundes Gesicht ein entsetzter Ausdruck zierte. «Chill doch mal, du kleiner Zwerg, das juckt doch keinen, der wird doch eh nicht vermisst.» Pluto stupste mit seinem Fuß kurz den Leichnam des Hausmeisters an.
«Aber was machen wir jetzt?? Ich wusste von Anfang an, dass die ganze Aktion eine Scheißidee ist!! Was zur Hölle machen wir jetzt mit dem da?» Verzweifelt zeigte Hans-Werner auf den leblosen Hausmeister und schaute sich panisch um. «Was ist, wenn hier Kameras sind? Wenn das alles aufgezeichnet wurde und wir gesehen wurden?? Wir sollten uns schnellstmöglich aus dem Staub machen!» Er wirbelte wild mit seinen Händen.
«Jetzt hab dich mal nicht so, hast du vergessen, wofür wir das hier alles machen, du Lappen?!», brach es aus Francis raus. «Ja sie hat Recht. Wir beenden jetzt, was wir angefangen haben und ziehen es durch», entgegnete Shannon. «Wir machen das jetzt folgendermaßen. Pluto, du bleibst bei der Tür und hältst Wache, wir anderen gehen runter und suchen die Bälger. Verliere ja nicht diese verdammte Tür aus dem Auge.» Shannon machte eine drohende Geste. «Aber was zur Hölle machen wir jetzt mit ihm?», fragte Hans-Werner und deutete auf den leblosen Körper des Hausmeisters.
«Darum können wir uns später kümmern, der wird schon nicht weglaufen», entgegnete Francis und machte sich zusammen mit Shannon auf den Weg zum Treppenhaus. Die drei Terroristen schlichen vorsichtig den Gang zum Keller entlang. Hans-Werner drehte sich bei jedem zweiten Schritt ängstlich um. «Man, Hans-Werner, jetzt sei doch nicht so ein Weichei, hier ist doch weit und breit keine Menschenseele. Sei doch mal ein richtiger Mann.
Erinnere dich an die Eier in deiner Hose. Wenn du überhaupt welche hast.» Francis musterte ihn spöttisch. Als die drei den Keller erreichten, blieben sie stehen und schauten einander an. «So, wir machen das wie geplant und diesmal keine unüberlegten Handlungen!» Shannon warf Francis einen vorwurfsvollen Blick zu. «Ja ja, ich halte mich schon an den Plan und beherrsche mich diesmal», würgte Francis Shannon mitten im Satz ab. Sie öffneten vorsichtig die Kellertür und sahen die dunklen Gänge. «Und jetzt? Wo sollen wir denn lang?», flüsterte Hans-Werner unsicher.
«Jetzt sei doch mal ruhig. Hörst du nicht die Stimmen? Wir folgen denen einfach. Die müssen demnach am Ende dieses Ganges sein», flüsterte Shannon. Langsam, aber vorsichtig schlichen sie durch die Gänge und vernahmen die immer lauter werdenden Stimmen der Jugendlichen. Kurz bevor sie den Raum erreichten, machte Shannon eine Handbewegung, die andeutete, dass sie ruhig sein sollten. «Denkt daran, es sind immer noch Schüler und wir sind auf sie angewiesen. Also nicht mehr Gewalt als unbedingt notwendig», sagte Shannon mit ernster Stimme.
Hans-Werner und Francis nickten. Danach zählte sie mit den Fingern bis drei. Das war das Zeichen, woraufhin sie in den Raum stürmten. «Oh, hallo, wer sind Sie denn? Nehmen Sie die Schlüssel für Herrn Markgraf mit?», fragte Lucia verwundert. «Nein, ganz sicher nicht, wir haben etwas vor und ihr werdet uns dabei helfen.» Shannon bewegte sich mit ernster Miene langsam auf Lucia zu, die die drei verwirrt anschaute und ihre Brauen hochzog. «Wobei zur Hölle sollen wir euch denn helfen? Was wollt ihr und wer seid ihr überhaupt?», fragte Lucia nun mit leichter Angst in ihrer Stimme. «Ganz ruhig, Mädel, ihr werdet uns schon voranbringen, ob ihr es wollt oder nicht», beendete Shannon ihren Satz, während sich ihr Blick verfinsterte.
Lucia ahnte nicht, was sich in den nächsten Stunden anbahnte. Auch keiner der anderen konnte wissen, welches einschneidende Schicksal sich gerade durch diese Türen des Kellers bewegt hatte.