Er fand sich plötzlich auf dem kalten Betonboden wieder
Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr
12.02.23 Kapitel 4
Doch BitBiter aka Helena tat sich ausgesprochen schwer damit, ihre sogenannte Aufgabe zu erfüllen. Abgesehen von dieser absurden Situation, in der sie sich hier wiederfand, hatte sie schon vor dem Stromausfall ganz andere Probleme gehabt.
«Ich habe keine Ahnung, wie man den wieder anbekommt. Der ist zu alt! Ich kenne mich nur mit dem ganz neuen Kram aus», versuchte Helena sich nervös rauszureden.
Shannon stöhnte zornig und zog den Laptop zu sich heran, um feststellen zu können, was der ausschlaggebende Punkt für das Flackern und schließlich den Absturz gewesen war. Und da hatte sie den Übeltäter auch schon gefunden.
«Das Ladekabel hat nur einen Wackelkontakt», sagte Shannon etwas grimmig. Helena nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Shannon steckte das Ladegerät wieder richtig in den Laptop, der sich daraufhin langsam mit einem Rattern wieder anschaltete.
«Keine Sorge, das alte Ding ist fast unzerstörbar.» Shannon war sich ihrer Sache sicher. Helena wurde nur noch nervöser und gab sich alle Mühe, dies zu überspielen. Sie rollte ihre langen, frisch aus der Maniküre kommenden Fingernägel auf der grauen Tischplatte, was ein klapperndes Geräusch machte.
«Na los, mach weiter», forderte Shannon, «das kleine Flackern wird dich schon nicht stören.» Zögernd zog Helena den Laptop wieder auf ihre Seite des Tisches und starrte die vielen Zeichen, Wörter und Zahlen an. «Fang endlich an, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!», forderte Shannon. «Naja, hoffen wir mal, dass noch alles da ist, sonst muss ich nochmal ganz von vorn anfangen.» Helena betonte jedes einzelne Wort. Sie musste Zeit schinden.
Erschrocken riss Shannon die Augen auf und starrte zuerst auf den Bildschirm und dann auf Helena. «Und?! Ist alles da?», fragte sie nervös. «Jetzt sag schon!» Shannon konnte ihre Anspannung nun nicht mehr verbergen und wurde wütend. Bedrohlich beugte sie sich zu Helena und warf wieder einen Blick auf den Bildschirm, der immer noch dabei war, das Programm zu laden.
«Es lädt noch!», antwortete Helena schnippisch. Sie hatte tatsächlich kurz vergessen, in welch einer Situation sie sich befand und kehrte für einen Moment ihr selbstbewusstes Ich heraus. Sie war einfach nur genervt von Shannons Gedrängel. «Ey, pass ja auf, wie du mit mir redest, Fräulein!» Shannons Blick wurde noch düsterer.
Sie kam noch näher an Helena heran und schaute ihr bedrohlich in die Augen. Helena musste schlucken und versuchte, sich ihrem Blick zu entziehe. Doch ohne Erfolg. «Da! Das Programm hat geladen», rief sie voller Erleichterung. Shannon wandte sich von Helena ab und warf einen kritischen Blick auf den leicht flackernden Bildschirm.
«Und, jetzt sag endlich! Ist alles da?» «Ähh, jaaa …» Helena sah prüfend auf das Gewirr aus Sonderzeichen, Zahlen und Begriffen. «Ist das eine Frage?», wandte sich Shannon voller Wut an Helena. Sie erkannte sich selbst gar nicht mehr wieder. Schockiert von ihrer eigenen Emotion trat sie einen Schritt zurück und atmete tief durch.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, sie war so unglaublich unter Stress. Es musste einfach funktionieren. Es stand so viel auf dem Spiel. «Alles noch da. Glück gehabt», sagte Helena mit einem leicht sarkastischen Unterton, den Shannon zum Glück nicht wahrnahm, da sie immer noch in ihren Gedanken versunken war. Helena starrte die Zahlen an und hoffte auf einen Gedankenblitz, eine Lösung, irgendetwas, dass ihr helfen würde, hier rauszukommen. Verzweifelt dachte sie nach. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, doch ihr wollte nichts einfallen.
«Das ist zu riskant», murmelte Helena vor sich hin. Plötzlich ertönte wie aus dem Nichts ein lauter Knall. Was war das? Ein Schuss? Helena blickte verängstigt zu Shannon und musste feststellen, dass auch sie vor Angst gelähmt schien. Als würde ein Blitz einschlagen, erloschen etwas später alle Lichter, auch die des Laptops. «Was ist hier los?» Helena konnte die eigene Hand vor ihren Augen nicht erkennen, so stockdunkel war es.
Shannon murmelte nur etwas vor sich hin, dass Helena trotz ihrer Bemühungen nicht verstand. Jannes saß in seinem dunklen Kinderzimmer. Er hörte Gelächter aus dem Wohnzimmer. Seine Schwester und seine Mutter amüsierten sich anscheinend. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und er zog seine dünnen Beine noch näher an seinen kleinen Oberkörper heran.
Er spürte Tränen in seinen Augen, aber er ließ nicht zu, dass sie aus ihm herausbrachen. Das Lachen aus dem Wohnzimmer wurde lauter, genau wie die Silvesterböller von draußen. Jannes zuckte bei jedem Knall zusammen. Er wollte doch nur die bedingungslose Liebe seiner Mutter spüren, ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, so wie sie es seine Schwester fühlen ließ. Er fühlte einen unerträglichen Schmerz in seiner Brust und hätte aufschreien können.
Er wollte doch nur, dass seine Mutter zu ihm kam und ihm bei den verdammten Mathe-Hausaufgaben half, er wollte doch nur, er wollte … «Jannes! Du musst tief atmen! Ganz ruhig atmen. Ein und aus.» Langsam drang Zaras Stimme zu ihm durch und zog ihn aus seiner Gedankenblase. Erst jetzt realisierte er, wo er war.
Er fand sich plötzlich auf dem kalten Betonboden wieder. Er saß in der hintersten Ecke des Raumes und lehnte an der Wand. Er fühlte, wie sein Herz raste und hatte ein erdrückendes Gefühl in seiner Brust, was es unglaublich schwer machte, zu atmen.
Sein Kopf war leer und gleichzeitig überfluteten ihn Angst und Unbehagen. Zara saß vor ihm und redete ruhig auf ihn ein: «Jannes, es ist alles gut, ganz ruhig. Atme tief ein und aus. Komm, atme mit mir.» Sie atmete tief ein und aus und Jannes versuchte es ihr nachzumachen. «Komm, fühl deinen Herzschlag.» Sie nahm seine kalte Hand und legte sie auf seine bebende Brust.
Zaras warme Hand und ihre sanften Worte beruhigten ihn langsam. Sein Atem verlangsamte sich, er spürte, wie sein Herz zu einem normalen Rhythmus zurückgekehrte und er langsam wieder zu sich kam. «Oh Gott Jannes, was ist denn nur passiert?», fragte Amy besorgt. Auch wenn Jannes sie oft hänselte und sich auf ihre Kosten einen Spaß erlaubte, machte sie sich Sorgen. So hatte sie Jannes noch nie gesehen, keiner der Jugendlichen hatte das. «Ich, ich habe mich so erschreckt wegen dem Schuss und …», seine zitternde Stimme brach. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
«Und dann habe ich gesehen, wie doll dein Arm angefangen hat zu bluten und ich dachte, du … ich weiß auch nicht aber dann, dann …» Erst jetzt fasste sich Amy an ihre Schulter und bemerkte, wie sehr ihr Arm blutete. Auf einmal überkamen sie Erschöpfung und Schmerz. «Dann hast du Panik bekommen und dadurch keine Luft mehr. Außerdem hast du dich benommen gefühlt, hattest weiche Knie, Schwindel und eine Art Taubheits- und Kribbelgefühl?», vollendete Zara, die immer noch auf dem Boden vor Jannes saß, seinen Satz.
«Äh ja, genau so in etwa.» Jannes Blick war leer. Nicht nur er war geschockt. Hans-Werner stand immer noch an der Tür und hatte das Geschehen beobachtet. Völlig überfordert wusste er nicht wohin mit sich und war froh, dass Zara so ruhig blieb, was man von ihm nicht gerade sagen konnte. Für einen Augenblick war Hans-Werner über ihre Ruhe erstaunt. Er ertappte sich selbst dabei, zu lange darüber nachzudenken und schüttelte seinen Kopf. «Gut, wie auch immer. Ihr macht jetzt einfach euren Kram, ok?»
«Ähm, Leute, ich … ich ähm … ich fühl mich nicht so gut …» Amy zitterte am ganzen Körper und versuchte dennoch, die Blutung an ihrer Schulter mit ihren kleinen Händen zu stoppen. Schon im nächsten Augenblick sackte sie zusammen. Das plötzliche Schwächegefühl und das Wegknicken ihrer Beine machten ihr schreckliche Angst, aber der Schmerz in ihrer Schulter war zu überwältigend. Jannes lehnte immer noch an der kühlen Wand.
Sie fühlte sich staubig und rau an. Er war noch nicht völlig wieder bei sich und realisierte erst langsam, was gerade mit Amy passierte. Zara und Markus waren schon aufgesprungen und kümmerten sich um Amy. Für Jannes schien das alles weit weg zu sein, als ob es nicht wirklich passierte, wie ein Traum.
Er konnte sich nicht bewegen. Sein Körper fühlte sich so schwer an. Zara und Markus hingegen waren in Windeseile zu Amy gerannt. Jetzt, wo Amy voller Schmerzen mit dem ganzen Blut um sie herum auf dem Boden kniete, überkam auch Markus die Angst. Die ließ er sich jedoch nicht anmerken und überspielte sie gekonnt.
«Zum Glück», dachte er nur, zum Glück behielt Zara die Fassung und kümmerte sich. Wie ein Arzt in der Notaufnahme, wie man sie aus diversen amerikanischen Arztserien kannte, managte sie die Situation. So sorgte sie dafür, dass Amys Arm mit Markus Gürtel abgebunden wurde, um die Blutung zu stoppen, sie an die Wand gesetzt wurde, um ihren Kreislauf zu stabilisieren und ihr einige alte Aktenkisten unter die Beine gelegt wurden. Jannes hatte keine Ahnung, wie viel Zeit währenddessen vergangen war, aber nach einigen Augenblicken saßen alle zusammen auf dem Boden.
Zara schien erschöpft und atmete mehrfach tief ein und aus. Auch Amy beruhigte sich langsam. Markus hingegen stand kurz darauf schon wieder auf und entfernte sich von den Dreien. «Ich verstehe immer noch nicht, was gerade passiert.» Jannes Stimme durchbrach die Stille. «Du hattest eine Panikattacke.»
«Eine was?» Jannes wollte Zaras Worten nicht glauben. Er hatte zwar schon davon gehört, aber dass ER jetzt auch zu solchen «Psychos» gehörte, wollte er nicht wahrhaben. Zara sah in dem schwachen Lichtschein von der Notbeleuchtung im Flur, wie Jannes’ Gesicht sich verwundert verzog. «Eine Panikattacke ist eine Alarmreaktion des Körpers.
Angststörungen und Panikattacken haben einen prozentualen Anteil der psychischen Erkrankungen von 75 Prozent bei jungen Erwachsenen vor dem 24. Lebensjahr. Rund vier Prozent aller Menschen weltweit leiden im Laufe ihres Lebens an dieser Form der Angststörung. Oh, tut mir leid, das interessiert dich sicher gar nicht. Sag einfach Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst.» Zara stand von dem staubigen Boden auf und wischte sich den Staub von der dunklen Hose.
«Woher weißt du sowas eigentlich immer?» Zum ersten Mal überhaupt war Jannes beeindruckt von Zara. Etwas verdattert drehte sie ihren Kopf zu Jannes. Auf einmal war jemand an ihrer Leidenschaft für Statistiken und Fakten interessiert. «Ich, ich lese einfach gern und bin gern über alles informiert. Wissen ist Macht!» Sie musste schmunzeln, trotz ihrer Verwunderung.
«Irgendwie habe ich das noch nie so gesehen», sagte Jannes nachdenklich und wischte sich über die feuchte Wange. Und zum ersten Mal an diesem Tag realisierten die Schüler wirklich, wo sie waren: Im kalten dunklen Kellergewölbe ihrer Schule mit vier Attentätern, die den Hausmeister kaltblütig getötet hatten.
Nie wieder würden sie den ordnungsliebenden Mann auf dem Flur antreffen und ihn über kleine Kinder fluchen zu hören, schoss es Zara durch den Kopf. Er war tot, einfach aus der Welt gerissen, wegen eines Planes, von dem Zara nicht einmal wusste, worum es eigentlich ging. Was verdammt noch mal wollten diese Leute hier und warum zum Henker wollten sie einen verdammten Code knacken?
Bei dem Gedanken an Helena, die jetzt ganz allein mit einem dieser Attentäter in einem dunklen Raum saß, wurde ihr noch einmal mulmiger zumute. Hans-Werner lauschte der Konversation der Jugendlichen. «Wissen ist Macht.» Sicher ist es das. Das hätte auch von Friedrich kommen können. Er war für ihn eigentlich nur ein guter Bekannter gewesen und er bedauerte sein Defizit, soziale Kontakte zu knüpfen. Auf einmal wurde ihm erneut bewusst, dass er tot war.
So wie seine geliebten Hühner. Viele lachten über ihn, wenn er um seine Hühner trauerte, was ihn immer so wütend machte. Seine Hühner waren so viel mehr als Federvieh, das Eier legt. Sie waren seine Familie, denen er alles erzählt hatte und bei denen er das erste Mal das Gefühl hatte, gehört zu werden. Jedes von ihnen hatte seinen eigenen Charakter.
Er ballte seine Hand zu einer Faust. Doch der blitzartig aufgestiegene Zorn schien schneller abzuklingen als sonst. Ungewöhnlich. So etwas hatte er noch nie gespürt. Zum ersten Mal in seinem Leben wandelte sich der Zorn in ihm. Dieses Gefühl … Nein, es war kein Zorn, keine Wut, kein Wunsch nach Rache.
Es war Trauer. Tränen schossen ihm in die Augen. Ach, seine geliebten Hühner, sein geliebtes Zuhause, wie sehr er es doch vermisste. Dieses vertraute Gefühl, diese Geborgenheit, die er jeden Morgen aufs Neue empfand, wenn er nach dem Aufstehen in seinen kleinen Garten trat und ihn die drei kleinen Schnäbel schon hungrig begrüßten. All das war nun fort. Verloren. Für immer. Er schniefte leise.
Sein Gefühlschaos wurde von der mürrischen Francis unterbrochen, die er in den letzten Minuten ganz übersehen hatte. «Sag mal, heulst du?» Hans-Werner richtete seinen Blick auf, wischte sich hastig die eine Träne weg, die es geschafft hatte, sein Auge trotz seines dagegen Ankämpfens zu verlassen.
«Nein, ich doch nicht, ich hatte nur ein Staubkorn im Auge. Dieser Keller verdient es wirklich, mal sauber gemacht zu werden.» Francis verdrehte nur die Augen. Nach einem tiefen Ausatmen wandte sie sich genervt wieder an Hans-Werner. «Ist auch besser so. Das hier …», sie drehte sich näher an HansWerner heran und deutete mit ihrem Finger auf den Boden, «das hier, ja, das ist jetzt wichtig, verstehst du? Wir haben jetzt keine Zeit, sentimental zu werden.»
Hans-Werner nickte nur wortlos. Wie konnte Francis so konzentriert und ruhig bleiben? Wie schaffte sie es, dem Verlorenen nicht nachzutrauern? «Hans-Werner, hast du mich verstanden?» Francis´ harscher Ton riss Hans-Werner wieder aus seinen Gedanken. Er blickte auf, schüttelte leicht den Kopf und nickte nun deutlich.
«Gut. Hast du das hier im Griff?» Sie deutete auf die Schüler, die in der Ecke saßen und ihnen gerade keine Aufmerksamkeit schenkten. Wieder nickte Hans-Werner. «Gut. Dann geh ich mal los. Ich habe da noch was zu erledigen.» Mit kräftigem Schritt drehte sich Francis um und ließ die inzwischen ruhige Gruppe zurück. Wie sie gesagt hatte, sie musste noch etwas erledigen. Und dieses Etwas hatte eine quietschige, für Francis Geschmack etwas zu laute Stimme und eine rosa Schleife im Haar.
Sie musste sie finden, das stand fest, egal was es kostete. Nachdem Francis den Raum erhobenen Hauptes verlassen hatte, um die entflohene Lucia zu suchen, herrschte Schweigen. Die Szenerie mit den verstaubten Regalen und den abgenutzten Wänden, an denen der Putz schon längst abgebröckelt war, ließ die Situation wie aus einem Horrorfilm erscheinen. «Was machen wir denn jetzt?», hauchte Amy. Zara schauderte. In diesem Moment musste Zara an Tom denken.
Er war wie der Hausmeister einfach erschossen worden. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder den Moment, wie der blasse Junge aus dem Zimmer rannte und alle wie erstarrt waren, als wenig später Schüsse ertönten. Zara wollte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich Amy sich fühlen musste. Auch wenn sie die beiden nicht richtig kannte, hatte sie immer zu deren geschwisterlicher Beziehung aufgeblickt, wobei sie sich häufig ertappte, sich zu wünschen, einen großen Bruder so wie Tom zu haben.
«Tom ist einfach tot», dachte Zara. Wie konnte man unschuldigen Kindern so etwas antun? «Gute Frage», war das Einzige, was Zara auf Amys Frage zu antworten wusste. «Was ist mit Lucia?», flüsterte Jannes rechts neben Zara. Zara zuckte zusammen. Wo kam er denn jetzt her? Saß er nicht eben noch weiter hinten im Raum an der Wand? Diese Dunkelheit wurde ihren Augen langsam unangenehm. «Was soll schon mit ihr sein?», fragte Markus leise zurück. «Als ob sie wirklich ’nen Plan hat, wie sie uns hier raus schaffen soll. Mann, verdammt, die ist selbst zu blöd, um zu …».
«Aber sie hat es geschafft. Und vielleicht war sie diejenige, die das Licht ausgemacht hat, damit wir im Dunkeln entkommen können», flüsterte Amy. Zara hörte das Zittern aus ihrer Stimme und wollte sie am liebsten in den Arm nehmen. Auch sie glaubte nicht wirklich daran, dass Lucia für den Stromausfall verantwortlich war. Dennoch meinte sie: «Immerhin ist sie dieser gruseligen Frau entkommen.» «Vielleicht kann sie uns ja doch helfen.» Amys Stimme war voller Hoffnung. «Glaubt ihr das wirklich?», erwiderte Markus trocken.
«Es tut mir ja wirklich leid euch das zu sagen, aber es ist wohl was anderes, wegzulaufen, als sich drei Erwachsenen zu stellen, die zudem noch eine Waffe haben. Außerdem wissen wir nicht, wo Helena ist. Da wäre nämlich noch diese andere Frau. Was soll Lucia da bitte machen?» «Seit wann hast DU eigentlich was zu sagen, Markus?», fragte Jannes mit einem etwas abwertenden Ton. Anscheinend hatte nicht nur Markus seine Stimme wiedergefunden. «Es ist doch einfach wahr, dass Lucia sich eher für ihre Nägel interessiert als uns hier rauszubekommen», erwiderte Markus.
Verdammt, auch wenn Zara wirklich Hoffnung haben wollte, musste sie ihm doch recht geben. Lucia war nicht in der Lage, sie alle hier rauszuholen, und schon gar nicht war es ihre Aufgabe. Vielmehr war es jetzt wichtig, dass sie zusammenhielten, damit niemand hier zurückblieb. Aber wie? Amy begann neben ihr zu schluchzen und auch Markus’ Atem ging wenige Schritte entfernt von ihr unregelmäßig, als hätte er sich nicht ganz im Griff. Verdammt, verdammt, verdammt.
Das durfte doch alles nicht wahr sein. Amys Schluchzen zerriss die Stille wie der Pistolenschuss vorhin. Das Geräusch brannte sich Zaras ein. So gern hätte sie dem Mädchen geholfen, aber sie wusste nicht, wie. «Verdammt noch mal, merkt ihr eigentlich, was ihr macht?», rief Jannes auf einmal laut aus, und Zara meinte zu hören, wie HansWerner zusammenzuckte.
«Ihr haltet Kinder als eure Geiseln? Geht‘s noch?» Jannes Stimme wurde lauter. Dann war es wieder leise. Zara hatte ihn noch nie so ernst erlebt. Das zeigte nur, wie verzweifelt er war. Wie alle anderen auch. Jannes schien ein verschlossenes Buch zu sein, dachte Zara. Er wirkte nun aber ganz anders als vorhin, als er völlig aufgelöst war. «Hör mal Jungchen. Ich glaub nicht, dass du das verstehen könntest», setzte Hans-Werner an, doch Zara unterbrach ihn. «Es gibt nichts, was das hier rechtfertigen könnte. Also lassen Sie uns endlich gehen», verlangte sie.
Hans-Werner stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Verdammte Scheiße. Er wusste doch auch, dass das nicht richtig sein konnte. Und wie Francis einfach so den Hausmeister erschossen hatte … Noch immer fühlte er beim Gedanken an diese Szene einen Kloß in seinem Hals. Der arme Mann, dachte er nur. Aber das, was sie ihnen angetan hatten und was sie in Zukunft unwissenden Menschen antun würden, war um einiges schlimmer. Das rechtfertigte das alles doch, oder? Das redete er sich zumindest ein.
Dann ertönten Schritte auf dem Flur und alle lauschten der immer näherkommenden Person. War es Francis, die ihm nun eine Standpauke halten wollte? Vorsichtshalber stellte sich Hans-Werner breitbeinig vor die Tür. Es konnte genauso gut ein Beamter sein. Hatte das entkommene Mädchen es geschafft, die Polizei zu verständigen? Entschlossen verschränkte er zusätzlich die Arme vor der Brust. Doch die Silhouette entpuppte sich als Shannon, deren Haare im Schein der Notbeleuchtung einen gelb grünlichen Schimmer annahmen.
Hans-Werner atmete erleichtert durch. Unter den Schülern keimte Hoffnung auf. Hatte Helena es geschafft? Würden sie jetzt endlich aus diesem dunklen Loch entkommen können? «Leute, oh Gott, hat das lange gedauert, euch zu finden», unterbrach Shannon die Stille. «Warum bist du hier?! Was ist mit der Kleinen, he?! Soll sie uns auch entwischen, oder was?», fauchte Francis, die plötzlich auch aus der Dunkelheit auftauchte.
«AUCH?», fragte Shannon vorwurfsvoll. «Mir ist ein Mädel entwischt, als das Licht ausgegangen ist.» Francis wirkte nun etwas kleinlaut. Schnell fiel ihr jedoch ein, wer sie war, und sie fand ihre Selbstsicherheit wieder. «Ist ja jetzt auch egal, was machst du denn hier? Du musst auf unser kleines Beißerchen schon achtgeben,» erwiderte sie etwas genervt. Shannon und Hans-Werner sahen sie verdattert an. «Beißerchen? Was zur Hölle meinst du?», fragte Shannon verwirrt.
«Maaaann Leute, wie unlustig seid ihr denn?! Das Beißerchen halt … Klingelts?» Francis blicke Hans-Werner und Shannon erwartungsvoll an. Keiner von beiden wusste jedoch, worauf sie hinauswollte. «Ach Leute … Wegen BitBiter … bite … wie beißen … und so … das Beißerchen …ach, vergesst es.» Genervt gab sie auf und drehte sich mit einer abwinkenden Handbewegung weg.
Nach wenigen Sekunden des Beleidigtseins fiel Francis schlagartig wieder ein, warum sie zurückgekommen war. «Shannon, was ist jetzt mit der Kleinen? Du kannst die doch nicht allein lassen!» Sie wollte sich schon umdrehen und zu dem Raum eilen, in dem sie Helena festhielten. «Entspann dich!» Shannon griff nach Francis Arm, um sie zu bremsen. «Ich habe sie natürlich eingeschlossen. Würden diese WalkieTalkies richtig funktionieren, hätte ich euch auch darüber verständigt, aber da wir ja unbedingt Technik aus den 80-ern nehmen mussten …»
Shannon verdrehte die Augen und zeige auf das knisternde WalkieTalkie in ihrer Hand. «Was soll das denn jetzt schon wieder heißen?» Allmählich wurde Francis wütend. «Naja, dass die Dinger verdammt Scheiße sind und wir normale Handys hätten nehmen können.» «Das war aber nicht meine Idee! Friedrich meinte, man könnte uns irgendwie orten oder was weiß ich, wenn wir einfach unsere Handys benutzen würden.» «Wir drehen uns im Kreis!», unterbrach Shannon Francis. «Was ich sagen wollte, ist, dass nicht nur das Licht ausgefallen ist, sondern anscheinend der ganze Strom. Der Laptop ist abgestürzt und die liebe BitBiter kann nicht weitermachen.»
Francis fasste sich an die Stirn und fing an zu fluchen. Alle schwiegen. «Wer hat die Pistole jetzt eigentlich?» «Ich», brach es aus Hans-Werner heraus und er zog stolz die Pistole aus seiner Jacke und präsentierte sie Shannon. Wieder kurzes Schweigen. «Ich bin mir nicht sicher, ob wir das wirklich durchziehen sollten. Es sind Kinder, verdammt. Sie haben damit nichts zu tun. Und ich glaube nicht, dass …, dass Maria wollen würde …» Shannon führte den Satz nicht zu Ende, stattdessen schien es, als würde sie die Schultern hängen lassen.
Hans-Werner hatte keine Ahnung, wer diese Maria war, und es interessierte ihn auch nicht wirklich, denn was Shannon gesagt hatte, stimmte. Es waren unschuldige Kinder, die jetzt in diesen Vorfall verwickelt waren. Wieder kam es zu betretenem Schweigen. Eine ganze Weile hörte man nur das Tropfen in irgendeinem der zahlreichen Rohre und das ungleichmäßige Atmen von verschiedenen Personen.
«Dann müssen wir den verdammten Strom halt wieder anschalten. Was steht ihr hier so dumm rum?» Keiner antwortete. «Hör zu, Francis», fing Shannon an. «Ich beziehungsweise wir sind uns nicht mehr ganz sicher, ob wir das durchziehen wollen. Zwei Menschen wurden jetzt schon geopfert.» «Ach hör auf. Das war ja wohl viel mehr ein Unfall». «Der Hausmeister …».
«Der Hausmeister, Shannon, war zur falschen Zeit am falschen Ort. Das ist zwar bedauerlich, aber wir können es nicht mehr ändern. Es werden», Francis unterbrach sich kurz und redete dann leise weiter, so dass nur die zwei anderen Attentäter sie verstehen konnten, «es werden noch sehr viel mehr Menschen sterben. Ich kann nicht behaupten, dass mich das kalt lässt. Aber es sind notwendige Opfer für die Allgemeinheit. Versteht ihr? Wenn wir nichts unternehmen, dann wird so etwas wieder passieren. Und dann sind wir genauso gut schuld, weil wir als Wissende nur zugesehen und nichts unternommen haben. Willst du das? Willst du schuld daran sein, dass sie immer wieder das Leben unzähliger Menschen zerstören?» Francis Atem ging schnell und sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, den beiden nicht gleich eine zu scheuern.
«Wir können das jetzt nicht hinschmeißen, nur weil ihr irgendwelche Befindlichkeiten habt!», entgegnete Francis mit Nachdruck. «Ja, ja, da hast du wohl recht», meinte nun Hans-Werner. Unwohl schaute er zwischen den beiden Frauen hin und her. Er konnte nicht einordnen, welche von beiden im Moment gefährlicher war. Er war nur froh, dass er die Waffe bei sich trug und somit nichts passieren konnte. «Es muss doch eine andere Möglichkeit geben», meinte Shannon dann.
«Ach ja? Welche denn? Willst du sie anklagen und alles über den rechtlichen Weg klären? Sie? Da kannst du auch einen Löwen zwingen, Gras zu fressen, Shannon. Wenn es so einfach wäre und es so etwas wie Gerechtigkeit gäbe, würde es keine skrupellosen machthungrigen Menschen auf dieser Welt geben. Es mussten Unschuldige sterben, und nicht mal dann hat uns die Öffentlichkeit ernst genommen und zugehört. Wir müssen Opfer bringen und unsere Moral hinter uns lassen, damit andere Menschen nicht dasselbe Schicksal ereilt», erwiderte Francis mit so viel Überzeugung, dass Shannon schauderte.
Auch wenn Francis in erster Linie wohl eher auf Rache aus war, verstand Shannon sie, verstand das Leid der Frau und wusste, dass sie das hier zu Ende bringen mussten, auch wenn eine kleine Stimme in ihrem Kopf ihr immer noch zuflüsterte, es zu lassen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und holte erneut tief Luft. «Okay. Dann lasst uns diesen verdammten Strom irgendwie wieder anschalten.»
Hans-Werner, der die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, atmete vor Erleichterung tief aus. «Na also», sagte Francis zufrieden, «die Frage ist nur, wie wir das mit dem Strom anstellen.» «Es muss doch irgendeine Art von Stromkasten geben. Vielleicht finden wir dort die Ursache», überlegte Shannon laut. «Aber der kann doch überall sein! Wie sollen wir den zum Teufel finden?!» Hans-Werner baute sich voller Wut vor den beiden auf. «Jetzt beruhige dich, verdammt!» «Ich weiß, wo der Stromkasten ist und kann ihn euch zeigen», sagte eine verblüffend tiefe und kratzige Stimme seelenruhig.
Alle, Shannon, Francis, Hans-Werner und die Schüler drehten sich zu der Quelle. Vor allem die Schüler waren völlig geschockt, dass die Person überhaupt sprach, und, dass ihr Mitschüler diesen Menschen, die sie als Geisel hielten, Helena erpressten, den Hausmeister und Tom umgebracht hatten, seine Hilfe anbot.
«Gut, Hans-Werner, du gehst mit dem Jungen zum Stromkasten, ich bleibe bei den Kindern und Shannon geht zurück zu Beißerchen», legte Francis fest. Noch bevor Hans-Werner etwas einwenden konnte, lief der Schüler zu ihm. Seine Mitschüler folgten mit entsetzten Blicken den Schritten des Freiwilligen. «Können wir?», fragte Markus ruhig, der schon an der Tür stand. Still tappten die beiden den Gang entlang.
Markus blickte Hans-Werner skeptisch von der Seite an. «Wo ist dieser verdammte Stromkasten?», schnarrte dieser. «Wir müssen einmal durch den ganzen Keller durch», erklärte Markus nüchtern. «Wehe, du verarschst mich. Dann kannst du deinen komischen Freunden nicht mehr helfen. Das schwöre ich dir!», drohte Hans-Werner mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
Markus blieb entrüstet stehen. «Was hätte ich für einen Grund, denen zu helfen? Für die bin ich doch sowieso nur der Kiffer-Markus, dem man nicht zu nahekommen sollte. Außerdem hab ich heute absolut keinen Bock drauf, ins Gras zu beißen. Zumindest wenn ich vorher keins mehr zu schniefen bekomme», erklärte er mit genervtem Ton und setzte sich wieder in Bewegung. «Macht euren Scheiß fertig und dann kann ich endlich abhauen. Ich habe schließlich noch andere Sachen zu tun.»
Hans-Werner musste bei diesen Worten unweigerlich schmunzeln. Dieser Junge passte zu ihnen. Die beiden gingen weiter, nicht ahnend, dass Lucia ihr Gespräch durch ihr Versteck belauschte. Plötzlich drang das Geräusch von Schritten unter dem Türschlitz durch. Lucia erstarrte entsetzt. Diese Frau suchte anscheinend doch noch nach ihr! «Was soll ich nur machen, wenn sie mich findet?!», dachte Lucia verzweifelt.
Als sie vorhin weggelaufen war, war die Frau so wütend gewesen. Lucia traute ihr alles zu. Doch das Einzige, was Lucia gerade tun konnte, war, keinen Mucks von sich zu geben und zu beten, dass sie nicht gefunden werden würde. Angespannt drückte sie sich gegen die Tür und lauschte. Da hörte sie eine gedämpfte Stimme. «Weißt du, du bist vielleicht gar nicht so schlecht.
Mit so einer Einstellung könntest du vielleicht eines Tages bei uns mitmachen.» Die Stimme klang nachdenklich und ein wenig amüsiert. Lucia glaubte die Stimme zu kennen. Moment mal, das ist doch … «Ja, vielleicht. Wenn ich von euch dann auch Kohle krieg, von mir aus», hörte sie eine gelangweilte Stimme antworten. Das war definitiv Markus. «Glaub mir, du wirst Kohle kriegen.»
Jetzt war sich Lucia sicher, denn sie hatte diesen wahnsinnigen Ton schon einmal gehört. Das musste der Terrorist sein, welcher vorhin mit der Waffe bei den anderen geblieben war. Doch sie konnte, nein, sie wollte nicht glauben, dass Markus die Terroristen auch noch unterstützen würde. Doch jetzt, wenn sie darüber nachdachte, merkte die Schülerin, dass sie rein gar nichts über Markus wusste.
Man hörte Gerüchte, dass er mit irgendwelchen komischen Gestalten in der Pause heimlich kiffen würde und die Tüte mit den getrockneten Blättern, welche ihm von den Terroristen abgenommen wurde, bewahrheitete dieses Gerücht anscheinend. Sie hatte nie mit ihm ein Wort geredet, allein wegen Markus‹ unheimlicher Ausstrahlung, zu deren Linderung nicht grad die dunklen Klamotten beisteuerten. Um es genauer zu sagen, es sprach deshalb niemand mit ihm.
Unweigerlich fragte sich Lucia, ob Markus› negative Persönlichkeitsentwicklung nicht hätte verhindert werden können, indem sie es einfach mal getan hätte. Gerade sie wusste doch, wie schwer es ist, Anerkennung von anderen Menschen zu erhalten. Das war einer der Hauptgründe, weshalb sie so sorgsam ihren Instagram-Account pflegte. Sie wollte, dass ihre Familie stolz auf sie ist.
Ihre Eltern hatten sie liebevoll aufgezogen und sie wollte ihnen so gerne zeigen, dass sie alles richtig gemacht hatten. Lucias Schwestern waren ihr immer ein Vorbild, denn diese waren erfolgreich in ihren Berufen, hatten viele Freunde und führten ein harmonisches Leben. Lucia dagegen kam sich immer so vor, als ob sie alles falsch machen würde. Ihre Noten waren, trotz ihrer Intelligenz, nicht gerade die besten, sie hatte kein besonderes Talent für Kunst oder Musik und sie ging so gut wie nie außerschulisch vor die Tür.
Lucia war zwar sehr beliebt und wurde teilweise sogar von einigen Mitschülern bewundert, doch innerlich wusste sie, dass das alles eigentlich keine wahren Freunde waren. Sie hatte Angst, später als Erwachsene nichts auf die Reihe zu kriegen und dadurch ihre Eltern zu enttäuschen. Als sie mit Instagram startete, hatte sie das Gefühl, mit ihren Worten etwas bewirken zu können. Sie erzählte dort nämlich von ihren Ängsten und Sorgen.
Doch mit der Zeit wandelte sich dieses ursprüngliche Hobby zu einer unstemmbaren Pflicht und sie begann ihre Aussagen zu überdenken und immer nur das zu sagen, was allen Followern gefällt. Der Drang, ihren Eltern sowie der ganzen Welt etwas zu beweisen, wurde immer größer und drohte, sie zu ersticken. Daran wollte die junge Influencerin jedoch im Moment nicht denken, und so schob sie ihre Gedanken beiseite. Mit Erleichterung realisierte Lucia, dass die Geräusche hinter der Tür wieder verstummt waren. «Markus und der Terrorist müssen also wieder weg sein», dachte sie erleichtert.
Heilfroh seufzte sie laut auf und rutschte erschöpft die Tür entlang hinab. Kraftlos ließ sie ihren Kopf auf ihre angewinkelten Knie sinken. Das hier war ein Albtraum, ein Albtraum der schlimmsten Sorte und sie wollte einfach nicht aufwachen. «Halt, versink jetzt nicht in Selbstmitleid», ermahnte sich Lucia selber laut.
«Du musst jetzt nachdenken. Denk nach, denk nach, denk nach!» Die Schülerin wusste, dass sie irgendetwas tun musste, um den anderen zu helfen. Ohne Licht und erst recht ohne Waffe würde das sehr schwierig werden. Draußen im Gang gab es wenigstens eine Notbeleuchtung. Doch hier in diesem kleinen Lagerraum zu einem der vielen Seitengänge hin herrschte eine tiefe Schwärze.
Wenn sie wenigstens wüsste, ob sich hier irgendwo in diesen Lagerräumen Taschenlampen befinden, dann könnte sie nach irgendwelchen Gegenständen suchen, die sie als Waffe nutzen könnte. Plötzlich wurde das junge Mädchen aus seinen Gedanken gerissen. Ein Stöhnen durchbrach die tiefe Stille. Sofort sprang Lucia vor Schreck auf. Angst schnürte ihr die Kehle zu und ihr Herz schlug wie verrückt. Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Hier war definitiv jemand im Raum! Bestimmt war es einer der Terroristen, der durch irgendeine ihr unbekannte Tür in hereingekommen war. Jetzt würde sie geschnappt werden, und wenn es diese skrupellose Frau war, welche Lucia zur Toilette begleitet hatte, hätte sie vermutlich nur noch wenige Sekunden zu leben. Ich werde nicht kampflos aufgeben!
Lucia verspürte einen unerwarteten Mut in sich aufsteigen. Nein, sie würde nicht einfach so aufgeben. Sie würde sich verteidigen und es der Frau so schwer machen, wie es nur ging. Langsam schlich sie zu der entgegengesetzten Seite, von wo die Schritte herkamen. Es war immer noch pechschwarz und normalerweise wäre Lucia niemals allein durch einen so dunklen Kellerraum gegangen.
Sie hätte zu viel Angst, sie könnte über etwas fallen oder irgendwelche Spinnen oder anderes Ungeziefer könnten auf ihr landen. Aber das hier war auch keine normale Situation. Es ging um das nackte Überleben. Die Angst vor dem Sterben war um einiges größer als die vor der Dunkelheit. Schließlich erreichte sie eines der offenen Lagerregale und tastete blind darüber.
Dabei fiel scheppernd etwas zu Boden, doch Lucia war das in diesem Moment herzlich egal. Sie hatte nämlich eine Waffe gefunden. Ihre Finger glitten hastig über das glatte Holz des Baseballschlägers. Vor einigen Monaten hatte ihre Schule eine ganze Menge neue Baseballschläger geliefert bekommen, sodass die alten und abgenutzten in den Keller wanderten zu Lucias Glück.
Schließlich fand sie den Griff des Schlägers, umklammerte ihn fest mit beiden Händen, drehte sich mit Schwung um, zum Ausholen bereit. Adrenalin flutete ihren Körper, und ihre Sinne schärften sich. Die kalte Angst, die sie eben noch verspürt hatte, trat in den Hintergrund. Sie war bereit, zuzuschlagen. Die Schritte waren jetzt ganz nah vor ihr.
Mit zitternder, aber entschlossener Stimme rief sie in die schwarze Dunkelheit: «Kkeinen Schritt näher! Iich bin bewaffnet. Glaub nicht, ich würde mich nicht trauen, meine Waffe auch zu benutzen.» Die Schritte verstummten. Verzweifelt versuchte Lucia in der Finsternis etwas zu erkennen.
Sie hörte jemanden atmen. Überraschenderweise fiel ihr auf, dass der vermeintliche Terrorist schwer und schnell atmete. «Wer ist da?», hakte Lucia nach, diesmal mit festerer Stimme. Endlich erreichten sie den Hauswirtschaftsraum, dessen Tür einen Spalt breit offenstand. «Ach, Scheiße. In dem Raum gibt es kein Notlicht», fluchte HansWerner vor sich hin und betrat zögerlich den Raum. «Ist doch egal», antwortete Markus angeödet.
Er durchquerte mit zwei festen Schritten den kleinen dunklen Raum und stieß dabei mit dem Fuß gegen etwas Festes auf dem Boden. Er streckte die Hand nach dem Stromkasten aus. «Sieht so aus, als hätte Herr Markgraf die Stromkastentür immer noch nicht repariert», murmelte er.
Diese war nämlich schon seit einigen Monaten kaputt. Blind tastete er über die unzähligen Schalter und Knöpfe. «Wehe, du knipst irgendwelche Lichter außerhalb des Kellers an. Unsere Mission könnte auffliegen, wenn die Nachbarn merken, dass die Schule ganz plötzlich an einem Samstag taghell beleuchtet ist», knurrte Hans-Werner.
«Reg dich ab. Ich war oft genug hier unten, um zu wissen, wie der Sicherungskasten aufgebaut ist. Während der Schulzeit ist der Keller der einzige Ort, an dem mir niemand auf die Nerven geht. Sonst wüsste ich auch wohl kaum, dass diese Klappe hier seit Monaten nicht mehr richtig schließt», besänftigte ihn Markus. «Aber es dürfte ja kein Problem sein, wenn der Keller taghell beleuchtet ist», fügte er mit sarkastischem Unterton hinzu. Klick. Klick. Klick.
Der Schüler legte eine Reihe von Schaltern um und die Lichter schalteten sich wieder an. Blinzelnd sah sich HansWerner um. Erleichterung durchströmte ihn. 72 IV «Schau dir das an. Dieses kleine Mistvieh ist also für den Stromausfall verantwortlich.» Er deutete auf einen umgefallenen Schrank, welcher unter dem Stromkasten lag. Auf ihm lag Flora, die Katze des Hausmeisters, welche mit wachen Augen zu den beiden aufschaute. Nachdem sie vorhin im Toilettenraum auf die ihr fremden Francis und Lucia gestoßen war, rannte sie in diesen Raum. Sie sprang auf den Schrank.
Dieser fiel auf den zwangsweise offenen Stromkasten und löste einen Stromausfall aus … Noch bevor sich Markus und Hans-Werner über den erleuchteten Keller freuten, war Lucia verängstigt in ihrem Versteck geblieben und wartete auf eine Antwort ihres unbekannten Gegenübers. Doch ehe Lucia eine Antwort auf ihre Frage erhielt, erklang aus heiterem Himmel ein leises Klicken und das Licht schaltete sich wieder an.
Vor Schreck und geblendet von der plötzlichen Helligkeit ließ Lucia den Baseballschläger fallen. «Verdammt!» Panisch riss sie die Augen auf. Angsterfüllt starrte sie die Person an. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das helle Licht. «Du …», keuchte sie schwer, doch weiter kam sie nicht