KRIMI-SERIE

Hoffentlich kommen wir hier lebend raus

26.02.23  Kapitel 6

Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr 

 

Hans-Werner hatte seine handwerklichen Tätigkeiten im Hauswirtschaftsraum beendet und wendete sich der Tür zu.

«Kommst du mit oder willst du hier weiter Löcher in die Wand starren? Davon kommst du aus diesem Keller auch nicht raus», bemerkte Hans-Werner spöttisch, als sein Begleiter hinter ihm stehen blieb.

Markus, der bis eben noch in seiner eigenen Welt gelebt hatte, wurde plötzlich wieder in die Realität geholt. «Hm? Ja … ich … ähm … Ich komme mit.»

Es war Markus anzumerken, dass er dem vorherigen Gespräch kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Die Pläne der Terroristen hatten ihn total aus der Fassung gebracht. Ein Teil dieser Gruppe zu sein, überwältigte ihn in gewisser Weise.

Sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne.

Einerseits fühlte es sich gut an, endlich zu einer Gemeinschaft dazuzugehören und ein gemeinsames Ziel anzustreben, nachdem man jahrelang nicht so akzeptiert wurde, wie man ist und alle Menschen einem den Rücken zugekehrt hatten.

Andererseits war die geplante Aktion sehr heftig.

Eine Bombe legen?

Da war das Grasrauchen der letzten Jahre nicht ansatzweise so krass gewesen. Allerdings war ihm jetzt sowieso gleichgültig, was andere über ihn denken würden.

Es gab kein Zurück mehr. Die Terroristen würden die Bude auch ohne ihn in die Luft jagen. Die Aktion würde ihm vielleicht endlich die Chance geben, jemanden für die Qualen, die ihm widerfahren waren, leiden zu lassen. Gemeinsam verließen Hans-Werner und Markus den Hauswirtschaftsraum und betraten den Flur. «Und da kann wirklich nichts schiefgehen bei eurem Vorhaben?», hakte Markus nach, während er versuchte, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

«Hey, das ist nicht unser Vorhaben. Das ist jetzt auch deins. Du wolltest doch schließlich mit einsteigen. Außerdem, was glaubst du, wer wir sind? Das ist alles genauestens durchdacht. Da kann überhaupt 88 89 VI VI nichts schiefgehen.» Auch, wenn Hans-Werner sich sein Unbehagen nicht eingestehen wollte, klang seine Stimme unsicher. Allerdings schien Markus dies nicht zu registrieren.

«Hoffe ich», setzte HansWerner nach ein paar Sekunden des Stillschweigens hinzu. «Weißt du, du erinnerst mich irgendwie ein wenig an meine Mutter vor der …» Er stoppte abrupt und wechselte das Thema. «Ist kühl geworden die Tage, nicht wahr?» «Vor was? Ist ihr etwas zugestoßen?», Markus schien froh über eine Ablenkung von der Bombenthematik zu sein.

Plötzlich schien er wieder ganz aufmerksam zu sein. «Nun ja, du musst wissen, dass meine Mutter sich schon von meinem Vater scheiden ließ, als ich noch in der Grundschule war. Darum kann ich mich auch ehrlich gesagt kaum noch an sie erinnern, aber das ist mir im Gedächtnis geblieben.» Hans-Werners Stimme klang emotionslos, als ob ihn seine Vergangenheit kaum berühren würde.

«Oh. Also herrschte bei euch in der Familie eher ein angespanntes Verhältnis?», fragte Markus nach. Hans lachte kurz auf, bis seine Miene wieder ernst wurde. «Das kann man so sagen. Nun ja. Als mein Vater mich dann alleine großzog, wollte er sich gut um mich kümmern, damit es mir ja an nichts fehlte.» «Ist doch toll, wenn man alles bekommt, was man will», fügte Markus hinzu.

«Eigentlich nicht wirklich.» Hans-Werner überlegte kurz. «Irgendwann wurde es mir zu öde. Nach zehn Jahren habe ich versucht, mich von ihm abzukapseln, meinen eigenen Weg einzuschlagen. Doch meine rebellische Jugend hat unserer Beziehung ziemlich geschadet. Letztendlich wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben. Bis auf Hanna, Emma und Berta, meine drei Hühner, hatte ich niemanden um mich herum, dem ich nahestand. Als die Süßen dann verstarben, habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten.» Halt war das Stichwort.

HansWerner verstummte. Markus und er blieben abrupt im Flur stehen. «Hast du das Geräusch auch gehört?», fragte Hans-Werner Markus. Dieser schüttelte nur den Kopf. «Das war bestimmt nur der Wind.» «Wind im Keller? In einem geschlossenen System? Ich glaube nicht. Da muss etwas anderes sein», behauptete Hans-Werner mit skeptischem Unterton.

Hatte er sich das Geräusch wirklich nur eingebildet? Einen Moment zögerte er und lauschte in die Stille, die auf dem Flur herrschte, dann stempelte er seine Wahrnehmung als Irrtum ab.

«Man wird hier ganz verrückt in diesen Gängen. Ich wusste, dass das ein beschissener Plan ist, aber auf mich wollte ja keiner hören», schimpfte der Mann grimmig. «Wo waren wir stehengeblieben?», versuchte er seine Gefühlsschwankungen zu überspielen.

«Dabei, dass du es nicht mehr zu Hause ausgehalten hast», erinnerte Markus ihn. «Danke. Ja, seitdem meide ich jedenfalls neue Kontakte, soweit es geht. Nur Pluto ist mir aus meiner Schulzeit noch geblieben.» Hans-Werner schien plötzlich abwesend. «Ach ja, der Pluto.» Innerlich schwelgte er in tiefsitzenden und verborgenen Erinnerungen.

«Da geht es dir ja ähnlich wie mir. Ich versuche Menschen auch zu meiden, so gut es geht. Seitdem das Gerücht in der Schule umher geht, dass ich Gras rauche, haben sich plötzlich alle von mir abgewendet. Aber na und? Selbst wenn ich das Zeug rauchen sollte, ist das doch nicht deren Angelegenheit. Ich zwinge ja niemanden, mitzumachen.

Und die reden trotzdem schlecht über mich!» Markus wirkte etwas bedrückt, als er diese Worte aussprach. Als ob ihm diese Ausgrenzung auf einmal doch nahegehen würde, obwohl er es jahrelang versucht hatte, sie auszublenden. «Na ja, seitdem habe ich jedenfalls nicht wirklich viele Freunde hier an der Schule und zu Hause sieht es ähnlich aus.

Mein Vater ist weg und meine Mutter hat nur ihre beschissene Katze im Kopf und lässt mich links liegen.» Hans-Werner reagierte darauf nur mit einem kurzem «Oh.» Sie liefen stillschweigend nebeneinanderher. Es erschien ihnen plötzlich komisch, sich mit einer ihnen fremden Person über die Vergangenheit zu unterhalten. Viele Jahre vertrauten sie sich niemandem an, lebten nur so vor sich hin und plötzlich wusste eine Person in wenigen Minuten besser über sie Bescheid als die meisten anderen, mit denen sie ihre bisherigen Leben verbracht hatten. Andererseits fühlte es sich gut an, sich nach so langer Zeit jemandem zu öffnen, der mit denselben Problemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, wie man selbst.

Mittlerweile waren Hans-Werner und Markus ein paar Meter vor dem Hausmeisterbüro stehengeblieben. Hans-Werners Worte erklangen so laut, dass Lucia und Tom, die sich noch im Hausmeisterbüro befanden, sie hören konnten. In den beiden stieg für einen kurzen Moment regelrechte Panik auf und sie erstarrten.

Innerlich unter Druck schauten sie auf die vor ihnen liegenden, empfangslosen Handys in der kleinen roten Holzkiste auf dem Tisch. Ihr gesamter Plan hatte sich von einer Sekunde auf die andere in Luft aufgelöst. Wäre auch zu leicht gewesen, wenn es hier unten im Keller tatsächlich Empfang gegeben hätte, dachte Tom. Lucia schaute ihn besorgt von der Seite an. «Was machen wir jetzt? Wir werden gleich sterben, wenn HansWerner uns hier entdeckt», flüsterte sie mit erstickter Stimme.

Der Junge verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und grübelte über einen Ausweg: «Wir müssen irgendwie Hilfe holen. Die Polizei verständigen, irgendwas unternehmen!» Lucia seufzte und fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre platinblonden Haare. «Dafür müssen wir aus diesem Raum raus. Vielleicht haben wir draußen vor dem Schulgebäude oder an einem anderen Fleck in diesem Keller mehr Glück mit dem Empfang», schlug sie vor.

«Du hast recht, wir müssen es versuchen, lass mich schnell nachschauen, wie weit Hans-Werner und Markus noch entfernt sind. Wir müssen uns beeilen. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr», antwortete Tom und schnappte sich kurzerhand eines der Handys, womit er sich auf den Weg zur Tür machte.

Er öffnete die Tür einen Spalt und lunzte vorsichtig auf den Flur. Hans-Werner und Markus standen genau vor dem Hausmeisterbüro. «Mist! Wir brauchen einen Plan B», flüsterte Tom Lucia zu. Mit pochendem Herzen wartete Tom einen Augenblick und versuchte das Gespräch zwischen Markus und Hans-Werner zu verfolgen. «Ich kann nichts verstehen, nur einzelne Wortfetzen. Das bringt uns kein Stück weiter», sagte Tom. In seiner Stimme machte sich Verzweiflung breit. Von der Niedergeschlagenheit getrieben, öffnete er die Tür noch einen Zentimeter weiter. Kein Stück mehr.

Das Risiko war so schon hoch genug, von einem der beiden gesehen zu werden. Lucia stand nur regungslos am Tisch und sprach ein stilles Stoßgebet. Hoffentlich kommen wir hier lebend raus, dachte sie. Von Neugier angestachelt, schlich sich das Mädchen hinter Tom an und wollte sich neben ihn hocken, um möglichst genauso viel von dem Gespräch, welches auf dem Flur vor sich ging, mitzubekommen, doch dann geschah es. Knack! Während Lucia in die Hocke gehen wollte, begannen ihre Knie zu knacken. Sie schaute zu Tom, der Panik bekam und schnell die Tür schloss. «Wie dumm bist du eigentlich?», wollte er Lucia am liebsten anschreien, aber die angespannte Situation hielt ihn gefangen, sodass er seine Worte vor Angst nur in Lucias Ohr flüsterte.

Lucia wollte noch ein leises «Entschuldigung!» zurückflüstern, aber dazu kam sie nicht mehr, denn plötzlich ertönte ein lautstarkes Geschrei vom Flur. Hans-Werner rief: «Ist da wer? Ich mach´ keine Scherze. Komm raus. Sonst kracht es. Aber gewaltig!» Man konnte die Stimme ganz deutlich durch die Bürotür wahrnehmen. Kein Wunder Hans-Werners Lautstärke hatte sich nämlich verdreifacht.

Lucia und Tom blieben nur wie angewurzelt vor der Tür in der Hocke. Unfähig zu denken, geschweige denn sich zu beraten, um nach einem ihnen möglichen Ausweg zu suchen. Auch Markus‘ Stimme war ganz leise zu hören, wie er versuchte, Hans-Werner zu beruhigen.: « … ruhig … bestimmt … deine Nerven … hier … verrückt … weiter gehen …»

Tom und Lucia erholten sich langsam aus ihrer Schockstarre, als sie das Wort weitergehen vernahmen. Lucia gab Tom ein Zeichen, dass er nochmal die Tür öffnen könnte und zeigte danach auf das Handy, welches Tom immer noch in der Hand hielt.

Der verstand blitzschnell. Langsam und vorsichtig versuchte er leise mit zitternden Händen die Tür zu öffnen und es gelang ihm. Markus stand mit dem Rücken zur Tür, sodass er die Sicht auf das Hausmeisterbüro für Hans-Werner versperrte. Irgendwie musste die Tür aber doch ein Geräusch von sich gegeben haben, denn Markus drehte sich schnell um und sein Blick kreuzte den von Tom für einen Augenblick.

Tom war so geschockt, dass er nicht einmal daran dachte, die Tür wieder zu schließen. 92 93 VI VI Während Lucia das Ganze nicht mitbekam, da sie keine Sicht auf den Flur hatte, hoffte Tom nur, dass Markus seine Gedanken verstehen könnte, indem er stumm darum bettelte, dass dieser ihn nicht verpfeifen würde und er nicht sterben müsse. Markus drehte sich wieder zu Hans-Werner um.

«Ist da was?», fragte Hans-Werner neugierig nach und Markus antwortete nur mit einem kurzen «Nein», obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob das die richtige Antwort war. Immerhin waren seine Mitschüler eigentlich fällig für das, was sie getan hatten. Das jahrelange Ausgrenzen. Sie hätten es eigentlich verdient, heute sterben zu müssen. Doch etwas in Markus sagte ihm, dass dies ein Fehler sein könnte und so entschied er sich, seine Mitschüler für diesen einen Augenblick zu schützen. Hans-Werner hingegen war skeptisch. Es waren jetzt schon zu viele kleine Geräusche gewesen, das konnte kein Zufall sein. Also begann er damit, sich genauer umzusehen.

Vielleicht würde er ja die Kleine finden, die Francis vorhin entkommen war. Dann wäre er der Held und vor seinem inneren Auge malte er sich schon Francis anerkennende und wertschätzende Reaktion aus. Markus blieb jedoch genau da stehen, wo er war. Er gab Tom ein kurzes Handzeichen hinter seinem Rücken, welches nur für ihn sichtbar war. Tom sollte die Tür langsam und vorsichtig schließen, sodass ihn Hans-Werner nicht entdeckte.

Markus ging währenddessen einen kleinen Schritt rückwärts auf die Hausmeisterbürotür zu, womit er die Sicht auf die offene Tür für Hans-Werner noch weiter versperrte. Tom dachte allerdings gar nicht daran, die Tür wieder zu schließen. Er witterte endlich seine Chance für die einzige Möglichkeit, die ihm und Lucia verblieb. Er griff kurzerhand das Handy, streckte seinen linken Arm soweit es ging, durch den winzigen, offenen Spalt der Tür und erreichte gerade so, dass er Markus Hände berührte, die dieser hinter dem Rücken verschränkt hatte.

Markus war verwundert und verstand nicht, was da hinter seinem Rücken geschah. Aber umdrehen konnte er sich nicht, sonst würde er Hans-Werner sofort verraten, was sich da hinter ihm abspielte. Also bemühte er sich, keine Miene zu verziehen und blieb einfach so stehen. Tom versuchte jedoch, Markus irgendwie dieses Handy zu geben, darin sah er ihre einzige Chance! Warum verstand Markus nicht, was er von ihm wollte! Markus wurde nervös. Tom hörte einfach nicht auf und verstand seine weiteren Zeichen, doch endlich die Tür zu schließen, nicht. «Vielleicht sollten wir noch bei den Toiletten suchen.»

Markus Stimme klang ruhig wie immer. Hans-Werner drehte sich zu ihm und sah ihn überlegend an. «Geh du doch schon vor, ich such hier hinten weiter die Gänge ab.» Hans-Werner guckte den blassen Jungen skeptisch an. «Vertrau mir», fügte Markus noch hinzu. «Ok, ich geh da hinten gucken. Aber wehe, du machst irgendeinen Mist, dann bist du fällig, Junge.» Drohend hob er die Faust, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und ging dann los.

Da die Toiletten nur wenige Meter entfernt waren, war sich Hans-Werner sicher, dass er hören würde, wenn sein Rekrut etwas anstellen würde. Aber es blieb ruhig. Markus schlenderte durch die Gänge nahe dem Büro. Prüfend drehte sich Hans-Werner noch einmal um, bevor er einen Blick in die Toiletten warf. «Hallo, ist hier jemand?», rief er hinein. Markus nutzte die Ablenkung und ging schnurstracks zurück zum Büro und blickte Tom durch den Spalt in der Tür vorwurfsvoll an. Kein Wort fiel zwischen den beiden. Markus Blick war so kalt, Tom konnte ihn nicht einschätzen.

Sollte er es tun? Er atmete durch, sah zu Lucia, die verwundert zurückschaute. «Mach!», flüsterte sie. Markus schaute vorsichtig zur Toilette hinüber. Gut, Hans-Werner war noch beschäftigt und bemerkte sie nicht. Als Markus seinen Blick Tom wieder zuwendete, sah er das Handy, das Tom ihm wortlos hinhielt. «So, keiner da, wie du sagst, alles ruhig. Ist wohl doch der Poltergeist in diesem alten Gemäuer, der hier das Knistern und Knacken verursacht.»

Hans-Werner kam geradewegs aus der Toilette raus. Geistesgegenwärtig griff Markus nach dem Handy, steckte es in seine hintere Hosentasche, schob die Tür des Büros mit dem Fuß zu und drehte sich zu Hans-Werner um. «Siehste, sag ich doch. Hier ist auch nichts und niemand. Vielleicht war´s die Katze. Die streunt hier immer rum. Können wir dann weiter?» 94 95 VI VI Markus überspielte seine Nervosität.

Was sollte er mit dem Handy nur anfangen? Tom und Lucia atmeten unterdessen tief durch. Der riskante Plan hatte funktioniert! Sie hörten noch das Gemurmel vor der Tür, doch für diesem Moment waren sie unentdeckt geblieben und fühlten sich sicher. Jetzt blieb nur noch abzuwarten und zu hoffen. Lucia, die bisher nur stillschweigend neben Tom saß und angespannt die Situation verfolgt hatte, raffte sich auf. «Bitte lass uns hier verstecken. Nicht, dass die gleich noch reinkommen.» Sie zeigte entschlossen auf den Schreibtisch. «Da! Da können wir drunter kriechen.

Da sieht man uns nicht sofort, wenn man die Tür öffnet.» Eilig rannten die beiden zu dem Tisch und quetschten sich darunter. Es war ziemlich eng und lange konnten sie in dieser Position sicher nicht verharren, aber in diesem Moment hörten sie von außen wieder Stimmen, die lauter zu werden schienen. «Ich … rein.» «Gut … halte … nicht ab … nichts finden …», waren die einzigen Bruchteile, die Lucia und Tom aus ihrem Versteck aus mithören konnten.

Doch bevor die Satzstücke in den Gedanken der beiden ein Gesamtbild ergeben konnten, öffnete sich auch schon die Tür. «Scheiße man, ich dachte, hier wäre die ganze Zeit abgeschlossen gewesen!», brüllte Hans-Werner, der offensichtlich in Rage verfallen war. Mist, dachten sich Tom und Lucia, dessen Herzen so sehr pochten, dass sie Angst hatten, man könne es an Stelle von Hans-Werner mit Sicherheit hören.

«Da hat bestimmt nur jemand vergessen, richtig abzuschließen. Was würde denn jemand mit Handys ohne Empfang wollen», versuchte Markus Hans-Werner zu beruhigen. «Willst du mich verarschen? Hier war doch zu hundert Prozent jemand von diesen kleinen Biestern. Diese Mistviecher sind doch überall!» Lucia und Tom warfen sich einen erschrockenen, kurzen Blick zu. Hans-Werner ging auf den Schreibtisch zu und blieb davor stehen. Bitte lass ihn sich jetzt nicht bücken, dachten Tom und Lucia. Dann wäre alles vorbei. Alles. Anstatt sich zu bücken, durchwühlte er allerdings nur die Handys.

Ihm dürfte nicht auffallen, wenn eins fehlen sollte, oder? «Wie viele Handys sollten das hier nochmal sein?», fragte HansWerner Markus. «Ich … Ich habe keine Ahnung», gab Markus als Antwort. «Scheiße», grölte Hans-Werner sichtlich genervt und trat dabei an die Rückseite des Schreibtischs, an die Lucia ihren Kopf angelehnt hatte. Sie wurde stark durchgeschüttelt, so fest war der Tritt.

Gerade so konnte sie sich einen Schrei verkneifen. «Ja gut, dann lass uns gehen. Hat doch eh alles keinen Sinn hier», gestand sich Hans-Werner nach kurzem Zögern ein und verließ mit Markus im Schlepptau das Hausmeisterbüro wieder. Lucia rieb sich die Hinterseite ihres Kopfes. «Aua!», jammerte sie und versuchte rasch aus dem Versteck herauszukriechen. Tom traute sich noch nicht zu sprechen.

Er hatte Angst, dass sie wieder zurückkommen würden, sobald sie das leiseste Geräusch machten. Die beiden streckten und dehnen sich in dem Raum, um ihre Muskeln wieder an Bewegung und die Freiheit zu gewöhnen, nachdem sie unter dem Schreibtisch verharrt hatten. Hans-Werner und Markus müssten in der Zeit weggegangen sein. Sie hatten die Tür offengelassen. Anscheinend machte es für sie keinen Unterschied, ob der Raum offenstand oder nicht.

So konnten Lucia und Tom aber die Lage auf dem Flur besser überblicken und im Falle, dass jemand zurückkehren würde, schnell wieder in das Versteck flüchten. «Pass auf. Wir müssen hier jetzt endlich raus. Hier ist niemand mehr.» Lucia klang hoffnungsvoll. «Lucia, wir kommen nicht raus, es ist abgeschlossen und wenn du keinen Geheimgang kennst, dann sitzen wir hier fest.» «Aber was sollen wir denn sonst machen? Denkst du wirklich,

Markus hilft uns? Ich glaube da irgendwie nicht dran …» «Ich bin mir auch nicht sicher, aber immerhin haben wir es versucht.» Tom wurde ganz kleinlaut. «Wir brauchen noch einen Plan!» Lucia hatte ihren alten Mut in sich wiederentdeckt und schloss vorsichtig die Tür des Büros, bis sie 96 VI nur noch einen Spalt offen war. So konnten sie hören, falls etwas vor sich geht und hatten gleichzeitig die Möglichkeit, ungestört reden zu können.

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