KRIMI-SERIE

«Sachen packen, wir haben den Code!»

Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr 

05.03.23  Kapitel 7

 Zara wurde mit einem starken Ruck ins Zimmer geschubst.

,,Zara!“ Helena war schon in wenigen Sekunden bei ihrer besten Freundin und drückte sie fest an sich.

«Was machst du denn hier? Wer hält denn jetzt oben Wache? Und warum bringst du die Kleine jetzt her?»

Aus Shannon anfänglicher Überraschung über Plutos plötzliches Erscheinen wurde Nervosität.

Was hatte Pluto nur vor? «Entspann dich mal. Also oben habe ich abgeschlossen mit den Schlüsseln, die unser jetzt doch sehr schweigsamer Freund bei sich hatte und naja, die Kleine sollte ich herbringen. Hat dir Francis denn nichts gesagt?»

Pluto fasste Shannon am Arm und drehte sie und sich selbst Richtung Tür, um wenigstens das Gefühl eines privaten Gesprächs zu erzeugen.

«Mein Walkie-Talkie geht nicht!» antwortete Shannon genervt und verdreht die Augen.

Prüfend warf sie einen Blick auf die Mädchen.

Sie umarmten sich immer noch und Shannon hoffte, dass sie ihnen nicht allzu genau zugehört hatten.

 

Dieser ganze Tag versetzte sie in einen Ausnahmezustand und sie wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was sie noch glauben sollte und was nicht.

 Sie nahm einfach ihre Position vor der Tür ein und drehte sich zu den Mädchen. Pluto tat es ihr gleich. Erst als Helena von Zara hochschaute, sah sie Pluto, der mit verschränkten Armen und selbstsicherem Gesicht vor der Tür stand. Er machte ihr Angst. An Shannon hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, aber Pluto … Sie ließ Zara sofort los und setzte sich nur zur Hälfte auf den kleinen Holzstuhl, während sie Zara mit einem unauffälligen Handzeichen anwies, dasselbe zu tun. Doch bevor Zara Helena folgte, drehte sie sich noch einmal zu Pluto und Shannon um: «Also, ich wollte noch fragen, ob es hier ein paar Stifte …»

«Wofür brauchst du denn Stifte? Um mit deiner besten Freundin noch ein wenig Schiffe versenken zu spielen?» Pluto lachte und blickte erwartungsvoll zu Shannon. Doch der war absolut nicht mehr zum Lachen zumute. «Nein, mir ist nur gerade aufgefallen, dass Helena überhaupt kein Werkzeug hat, um sich Notizen zu machen. Sie ist ja das Technik-Genie von uns beiden, aber selbst ich weiß, dass man sich bei so komplizierten Codes immer Notizen machen muss. Und wollt ihr nicht, dass sie euer Ziel erreicht? Was ist denn das eigentlich?» «Nichts, was du wissen musst! Jetzt nimm diesen Scheißstift, bevor du wie dein kleiner Freund endest!»

Er warf ihr einen kurzen Stift zu, den Zara nur mit letzter Willenskraft noch fangen konnte. Warum musste er auch Tom ansprechen! Wenn sie nur an den Schuss dachte, kam ein lautstark piependes Geräusch in ihre Ohren und sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Daran denken zu müssen, dass seine Leiche irgendwo im Schulhaus lag, trieb ihr die Tränen in die Augen. Aber sie musste sich jetzt konzentrieren. Sonst würde das alles vielleicht noch schlimmer werden. Sie sah auf zum Bildschirm und versuchte gleichzeitig, mit aller Kraft Toms Tod zu verdrängen. Mit zitternder Hand fing sie an, auf der Rückseite der Botschaft, die sie hierhergebracht hatte, Helena in Geheimschrift genau zu erklären, was sie tun musste, um den Code zu knacken. Aber dann fiel ihr etwas auf: Warum brauchten die Terroristen einen Code? Warum sollten sie sonst sieben Jugendliche gefangen nehmen? Wofür brauchten sie Helena?

Für die Terroristen war sie eine superschlaue, berühmte Hackerin. Irgendwas müssen sie ihr erzählt haben. Also fügte sie noch hinzu: «Was ist deren Plan?» Ihre Hand zitterte jetzt so stark, dass sie ihre eigene Handschrift jetzt nur noch schwer lesen konnte. Als Zara Helena die Nachricht zusteckte, schaute diese kurz darauf und folgte den Anweisungen, bis sie kurz danach die Frage sah. Sie versuchte, das Gekritzel auf dem Blatt zu entziffern und warf Zara einen hilfesuchenden Blick zu. Die aber starrte auf die Wand hinter dem Computer. Da Zara sonst eigentlich eine lesbare Schrift hatte, drehte Helena sich um und versuchte allein, die Nachricht zu entziffern. Erfolgreich. Sie zögerte nicht lange, antwortete kurz und bündig: «Bankkonto knacken» und steckte Zara den Zettel wieder zu. Doch dann schrie Zara nach kurzer Zeit auf: «Das alles für ein Bankkonto!»

Worauf Pluto, der bisher von seiner Position vor der Tür konzentriert den Austausch der beiden beobachtete, sich jetzt mit großen, schnellen Schritten auf sie zubewegte und Zara den Zettel aus der Hand riss. «Ernsthaft, eine Geheimschrift!» Er wurde mit jedem Wort lauter: «Ihr kleinen Rotzgören!» Gerade wollte er die verstörten Mädchen packen, doch Shannon hielt ihn davon ab. «Pluto! Reiß dich zusammen, du wirst doch wohl nicht zwei Mädchen schlagen wollen.» Sie stellte sich zwischen Pluto und die Mädchen. Pluto rümpfte das Gesicht und atmete schnaubend aus. «Fein!»

Er knackte seine Finger, schubste Shannon unsanft zur Seite und ging bedrohlich auf die Mädchen zu. Helena rechnete mit dem Schlimmsten und duckte sich. Zara war vor Angst erstarrt, wendete den Blick nicht von Pluto ab, sie traute sich nicht mal, zu blinzeln. Doch Pluto machte das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. Plötzlich drehte er sich um, ging langsam zum Mülleimer und entsorgte dort den zerrissenen Zettel. «Ihr bleibt jetzt erstmal hier, ich muss mich …», kurz schwieg Pluto, « …entspannen.» Und schon war er raus aus dem Zimmer. Shannon verdrehte die Augen und folgte Pluto mit Widerwillen in ihrer Körpersprache. Sie ließen die Tür hinter sich zufallen. Das letzte, was sie von ihnen hörten, war das Drehen des Schlüssels. Die Mädchen saßen fest. «Das mit dem Bankkonto. War das ein Scherz?» «Das war kein Scherz, Zara.

Das ist die Wahrheit», erwiderte Helena. Zaras Stimme klang angespannt. «Keiner würde sich soviel Mühe machen wegen so einer Kleinigkeit. Es gibt genügend Schwarzmarkt-Hacker. Warum sollten sie dafür in eine Schule einbrechen und unschuldige Leute ermorden.» Eine unangenehme Stille breitete sich im Raum aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sie von Helenas leisem Flüstern unterbrochen: «Ich weiß es nicht.» «Warum lässt du dich dann auf so etwas ein?» «Na, irgendwas musste ich doch tun! Ich dachte, ich könnte Zeit schinden und die Polizei würde kommen oder so.»

Helenas Stimme wurde immer unsicherer. Zara dachte nach. Helena hatte es nur gut gemeint, das erkannte sie, aber trotzdem, sie saßen immer noch in diesem Keller fest und das seit Stunden. «Trotzdem!», Zara wurde immer wütender. «Wie konntest du nur so naiv sein, diese dumme Geschichte zu glauben!» Helena unterbrach sie schreiend: «Der Hausmeister ist tot! Sie haben ihn einfach kaltblütig erschossen. Mann ey, Herr Markgraf war zwar mürrisch, aber er hat doch nie einer Fliege was zuleide getan.» Sie griff sich mit beiden Händen in die Haare und versuchte, sich wieder zu sammeln. Wieder war es lange still, bis Helena leise flüsterte: «Was ist, wenn sie mehr Leute töten? Ich weiß, meine Aktion war leichtsinnig, aber ich habe gesehen, wie viel Angst du hattest und ich … ich wollte dich einfach beschützen!» Helena legte ihre Hände auf Zaras Knie.

«Was, was ist passiert? Warum weinst du?» Zara antworte ihr nicht. Stattdessen musste sie nur noch heftiger schluchzen. «Zari, rede mit mir, was ist passiert?» Noch immer brachte Zara kein Wort hervor. Helena verstand allmählich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Nein … nein … wer? Wer ist es?» Helenas Stimme stolperte, so dass sie nur noch flüstern konnte. «Tom. Sie … sie haben ihn einfach abgeknallt.» Helena konnte vor Schreck nicht sprechen. Ihre schlimmste Vermutung war wahr geworden. Sie hatten wirklich einen ihrer Mitschüler umgebracht. Für eine Weile war es so still im Raum, dass man ohne Probleme das Gespräch von Shannon und Pluto vor der Tür hören konnte. Sie stritten. «Wir … wir … müssen irgendwas tun. Ich will hier nicht sterben. Wir brauchen einen Plan! Zara, wir … DU musst dir was überlegen! Bitte Zari!» Flehend drehte sich Helena zur immer noch weinenden Zara. «Helli, bei besten Willen, mir fällt nichts ein. Es war schon schwierig genug, überhaupt zu dir zu kommen. Dieser Pluto und die andere mit der Waffe, die sind echt gefährlich.» «Dann … dann …»,

Helena stand auf und lief um den alten Tisch herum, auf dem der Laptop stand. Wieder fuhr sie sich durch ihre Haare und zerstörte ihre aufwändige Föhnfrisur damit endgültig. «Ich habe eine Idee!» Zügig ging Helena zu Zara zurück und setzte sich wieder neben sie. «Und was machen wir?» Zara wischte sich das Gesicht trocken. «Wir machen genau das, was sie verlangen. Wir geben ihnen diesen Code!» «Du weißt, was das heißt.» Toms Stimme klang ernst. «Wir müssen irgendwie nach oben», krächzte Lucia heiser. Allein der Gedanke, dass sie noch ein weiteres Mal durch das Keller-Labyrinth musste, ohne dabei entdeckt zu werden, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. «Das schaffen wir niemals!» «Wir vielleicht nicht.» Tom warf ihr einen vielsagenden Blick zu. «Du meinst doch nicht etwa Markus?!» «Naja, also entweder ist er klüger oder dümmer, als ich dachte. Ich meine, Terroristen freiwillig zu helfen ist doch wahnsinnig!»

«Nicht so wahnsinnig, wie einfach so zu fliehen! Amy war am Boden zerstört, als du einfach losgerannt bist! Sie hat wegen dir geweint! Wir alle dachten, du wärst tot», sprudelte es aus Lucia heraus. Die ganze Anspannung, die sich in ihr aufgestaut hatte, musste raus – und zwar sofort. Plötzlich wurde Tom zuerst bleich vor Schreck. Doch dann begannen seine Ohren zu glühen. Amy hatte sich so sehr Sorgen gemacht? «Geht … geht es ihr gut?» Er musste sich erst einmal sammeln. «Was ist das denn für eine Frage?! Natürlich nicht! Sie denkt, du bist tot!» «Wenn du weiter so schreist, bin ich das vielleicht bald», antwortete Tom frustriert.

Er griff einen Gegenstand vom Schreibtisch und wollte ihn gerade gegen eine Wand schmettern. «Warte! Nicht!», rief Lucia panisch und hielt im letzten Moment seinen Arm fest. Verwirrt starrte er auf den Gegenstand in seiner Hand – ein Handy. Es gehörte offensichtlich Lucia: pink glitzernd mit StrassSteinchen und das allerneueste Modell. Gleichzeitig ging ihm ein Licht auf: «Wir müssen ihm DEIN Handy zuschieben!» «WAS?! Warum denn ausgerechnet MEINS? Ich brauch das!» Lucia schaute ihn ungläubig an. 104 105 VII VII «Mann, checkst du denn gar nichts? Wegen deiner Follower-Reichweite!» Tom sah sie verärgert an. «Alternativ sterben dann halt Menschen. Also für mich ist die Antwort klar.» Ohne Lucias Antwort abzuwarten, tippte er einen Hilferuf in ihren Social-Media-Status. Das war äußerst einfach, da Lucia nicht einmal einen Sperr-Code für ihr Handy hatte, damit sie jederzeit ein Video machen konnte. Zuerst wollte Lucia protestieren, musste jedoch zugeben, dass Tom Recht hatte. Aber wie sollten sie bloß Markus das Handy geben? Das erste Mal war schon schwer genug. «Na gut. Also wie machen wir das jetzt?»

Lucia sah Tom erwartungsvoll an. «Wir müssen zurück zu Markus und den anderen Typen.» «Und dann spazieren wir da einfach so rein, oder was?», fragte sie skeptisch. «Ne, natürlich nicht. Keine Ahnung. Du versteckst dich in einem nahegelegenen Raum, an dem sie vorbeikommen, und ich lenke sie ab.» Er zuckte mit den Schultern. «Tom, nein! Hast du schon wieder vergessen, was beim letzten Mal passiert ist?! Ich muss dich sicherlich nicht daran erinnern, dass man dich in einen Schrank gestopft hat?!» «Ja eben! Ich wär doch die perfekte Ablenkung! Hast du eine bessere Idee?» Ein Miauen ließ die beiden aufschrecken. Flora saß auf dem Schreibtisch. Keiner von beiden hatte bemerkt, wie sie hereingekommen war. «Was zum … Wo kommt die denn her?» «Gute Frage. Aber ich denke, ich habe eine Idee!» Lucia lächelte.

Es war totenstill im Kellerarchiv, man hätte es sicherlich gehört, wenn eine Reißzwecke auf den Boden gefallen wäre. Warum hatte Zara nicht die Klappe halten können? Verzweifelt vergrub Jannes sein Gesicht in seinen Händen. Naja, er selbst war ja auch nicht viel besser. Inzwischen wusste er nicht mehr, was er noch tun sollte. Tom war tot, Helena und Zara irgendwo mit diesem komischen Typen, Lucia versteckte sich bestimmt und Markus war mit dem anderen Kerl verschwunden. Jetzt waren nur noch er und Amy da. Er schaute zu ihr hinüber, Amy sah unheimlich blass aus. Mit geschlossenen Augen hatte sie sich gegen die Wand gelehnt und hielt ihren blutverschmierten Arm fest. Jannes fühlte sich schuldig. Wenn er nicht bloß immer wie ein Idiot zu ihr gewesen wäre. Er stand auf und setzte sich neben sie: «Wie geht es deinem Arm?», fragte Jannes und versuchte den Kloß in seinem Hals runterzuschlucken.

Amy zuckte mit den Schultern. «Spielt jetzt doch eh keine Rolle mehr.» Sie klang eher ausgelaugt und müde als wütend. «Sag doch sowas nicht, Amy.» «Lass es einfach.» Amys Nüchternheit überraschte Jannes. «Tut mir leid», antwortete er kleinlaut. Langsam drehte Amy ihren Kopf zu ihm: «Warum? Bist du derjenige, der Tom erschossen und Helena und jetzt auch noch Zara verschleppt hat?» Sie warf einen hasserfüllten Blick in Francis Richtung, die mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und ihrem Blick auswich. «Nein, das meinte ich auch gar nicht. Ich schätze, mir tut einfach alles leid», druckste er vor sich hin und starrte auf seine Schuhe. «Vielleicht war ich auch einfach nur immer neidisch auf dich. Du hast einfach keine Angst, du selbst zu sein», führte er seinen Gedankengang fort. Amy schnaubte verächtlich:

«Klar, Jannes Krieger ist neidisch auf mich.» «Ja Mann! Ist echt so! Du fällst halt einfach so auf, durch deine selbst gemachten Klamotten. Du bist einfach einzigartig, ohne es groß versuchen zu müssen, während …», da wurde er unerwartet unterbrochen. «Boah Jannes, ist jetzt nicht böse gemeint, aber wir haben gerade echt größere Probleme.» Amy verdrehte die Augen und versuchte sich neu zu positionieren. Ihr ging es offensichtlich miserabel. Jannes hatte es die Sprache verschlagen. Diese Seite kannte er gar nicht von Amy. «Ich weiß ja selbst, dass das verrückt ist! Aber das ist der einzige Weg, den ich sehe! Wir … ich habe so viel verloren durch diesen Unfall, der hätte verhindert werden können!» Die Worte sprudelten gerade so aus Hans-Werner heraus. Die letzten Minuten war er schweigend mit Markus den Gang Richtung Kellerarchiv entlang gegangen.

Hans-Werner brach regelrecht zusammen. Der Druck war einfach 106 107 VII VII zu viel für ihn. Es fühlte sich grade so an, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. Schnaufend und unter Tränen setzte sich der Mann auf einen kaputten, ausgesonderten Tisch, der hier temporär abgestellt worden war. „Die Leute wissen nicht, wie es ist, wenn sich der Erdboden wortwörtlich auftut und alles verschluckt, was dir wichtig ist. Und wozu das alles? «Wegen des verdammten Profits!» Markus holte eine TaschentuchPackung aus seiner Bauchtasche, die er sich über die rechte Schulter geschnallte hatte. Hans-Werner, der ihn skeptisch und dennoch dankbar ansah, fischte eines der Taschentücher heraus und schnäuzte sich kräftig. «Du weißt sicher von den ‹Unfall› in unserem Dorf, oder? War ja überall in den Nachrichten.

Der schreckliche Unfall, der so viele Leben gekostet hat. Tja, nur es war kein Unfall! Die haben das geplant! Und die Explosion?! Ups, das passiert eben mal … Und die Trinkwasserverschmutzung?! Ups, das kann ja mal vorkommen! ALLES HABEN SIE UNS GENOMMEN! UNSERE ARBEIT, UNSER ZUHAUSE, UNSERE LIEBSTEN!» Hans-Werner brüllte den ganzen Gang zusammen. Doch plötzlich wurde er wieder ruhig. «Und das Schlimmste ist, dass wegen uns noch mehr Unschuldige sterben mussten! Was mach ich hier denn?» Hans-Werners Gewissenskonflikt hatte ihn völlig übermannt. Jetzt heulte er, in einem Keller, vor einem Teenager, der ihn mitleidig ansah. Wie konnte es bloß soweit kommen? Markus sagte nichts, sondern sah ihn nur verständnisvoll an. Hans-Werner verstummte und schnäuzte erneut in das Taschentuch.

«Ich habe ebenfalls Angehörige durch den ‹Unfall› verloren.» Markus machte imaginäre Gänsefüßchen in die Luft. «Wirklich?» Überrascht sah Hans-Werner ihn durch die verquollenen Augen an. Markus verschränkte seine Arme und nickte bestimmt: «Meine Oma wohnte dort in der Nähe. Sie ist vor ein paar Monaten gestorben. Hohes Alter, haben sie gesagt. Bullshit! Das ganze Trinkwasser war doch verseucht durch diesen Unfall! Wir haben mit ansehen müssen, wie sie immer kranker und schwächer wurde. Wir wollten sie sogar zu uns holen, um uns besser um sie kümmern zu können, doch diese scheiß Militärärzte meinten immer, sie sei zu schwach für einen Umzug. Alles gelogen! Hätten wir sie nur zu einem anderen Arzt außerhalb gebracht, dann wäre alles aufgeflogen. Aber bevor wir das gemacht haben, war es schon zu spät.

Wir konnten uns nicht mal verabschieden, nein, wir haben nur einen Anruf bekommen.» Markus verzog vor Trauer das Gesicht, doch statt die Tränen zuzulassen, trat er gegen die Kellerwand. «Tut mir leid, Junge.» «Hey, weißt du, was lustig ist? Du bist der Erste, der das sagt. Die anderen interessieren sich einen Scheißdreck für mich.» Markus lachte bitter. Hans-Werner empfand Mitleid für den Jungen. Er erinnerte ihn an sich selbst. «Weißt du was, du bist schwer in Ordnung, Junge.» Hans-Werner stand auf und klopfte Markus auf die Schulter. Es sah ein wenig unbeholfen aus, da der Junge dann doch ein ganzes Stück größer war. Dennoch schien ihn das nicht zu stören. Schließlich räusperte er sich: «Nun, dann ist es allerhöchste Zeit, dass wir zurückgehen, was?» Markus stimmte ihm mit einem Nicken zu. Schweigend liefen die beiden den hellen Gang entlang.

Plötzlich schepperte etwas. Hans-Werner horchte auf: «Du bleibst hier und ich sehe nach, was da los ist. Verbock es aber nicht.» Markus nickte stumm und beobachtete, wie Hans-Werner um die Ecke verschwand. «Markus!» Plötzlich riss ihn eine wohlbekannte Stimme aus seinen Gedanken. Überrascht sah er hinunter auf Lucia, welche ihn fest umarmte. Markus war so geschockt, dass er weder etwas sagte, noch sich aus der Umarmung löste. Lucia bemerkte dies und schob vorsichtig ihr Handy in seine Hosentasche. «Tom lebt! Tu das Richtige!», flüsterte sie aufgeregt, bevor sie sich schlagartig von ihm löste und wieder im Schatten des anliegenden Raumes verschwand. «Dieses verdammte Vieh!», fluchte Hans-Werner. Hatte er sich das gerade eingebildet? Lucia als Kontrapunkt zu seinen Gedanken, seinen Plänen und Absichten?

Die feste Umarmung schien 108 109 VII VII noch einen Moment fortzudauern, doch Hans-Werner zerschlug die Illusion mit festem Schritt und lautem Fluchen. «Diese dumme Katze hat schon wieder Aktenordner von irgendeinem Scheißregal geschmissen! Wir hätten das Biest und nicht den Hausmeister kaltmachen sollen!» Seine Wut über die Katze hatte die vorherige Weichheit komplett von ihm genommen. «Du bist noch da. Gut, wir können ein paar Hände mehr gebrauchen. Komm mit!» Markus folgte ihm weiter den Gang entlang. Das Gewicht des Handys in seiner Tasche fiel ihm nicht auf, die Überraschung über Lucias plötzliches Auftauchen, ihre Nähe und die fordernde Präsenz von Hans-Werner hatten ihn zu sehr davon abgelenkt. In ihrem Versteck beobachteten Lucia und Tom den Abzug der beiden, misstrauisch wegen der zwischen Geisel und Geiselnehmer unüblichen Vertrautheit. «Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee war?», fragte Lucia Tom. Sie hatte ihren Part hervorragend gespielt, aber jetzt überkamen sie Zweifel. «Naja, er hat dich zumindest nicht verraten, oder?» stellte Tom fest und fuhr fort:

«Wir brauchen ja eigentlich seine Hilfe gar nicht. Er muss nur in einen Bereich mit genug Empfang kommen, dann ist alles andere egal.» Aber obwohl er das sagte, fühlte er doch deutlich die Zweifel nagen und fasste einen Entschluss. «Aber auf Nummer sicher gehen schadet nichts. Komm mit, wollen wir sehen, ob wir es nicht doch selbst hier rausschaffen!» Amy hatte noch nie so richtig Widerworte gegeben und eigentlich auch nicht vorgehabt, damit anzufangen. Weniger Widerstand führte zu weniger Zeit mit Idioten und weniger Zeit mit Idioten verbringen zu müssen, war eindeutig das Ziel. Aber es war abzusehen, dass sie in diesem dummen Raum noch einige Zeit mit Jannes verbringen müsste. Außerdem fühlte sich ihr Arm schrecklich an. Jede noch so kleine Bewegung führte zu einem Gewittersturm aus Schmerz, auch beim Einatmen.

Wie zu Beispiel gerade eben, als sie Luft geholt hatte, bevor sie Jannes noch einmal auf ihre Situation hingewiesen hatte. Von wegen auffallen, neidisch sein. Als ob irgendein Mensch auf der Welt neidisch auf einen angeschossenen Arm wäre. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Plötzlich, woher auch immer. Was denn noch alles? Anscheinend sah man ihr die Schmerzen an, denn Jannes fragte sie besorgt: «Amy, alles gut bei dir?» «Ich blute wie ein Schwein, liege in diesem Scheiß-Keller und werde dumm zugelabert. Exakt so hatte ich mir den Nachmittag vorgestellt, verstehste?» Plötzlich hatte Jannes eine Hand auf der Schulter und wurde ein ganzes Stück nach hinten versetzt. «Ich verstehe ja, dass gemeinsam durchgestandene Ausnahmesituationen zusammenschweißen, aber im Gegensatz zu dir geht es der Kleinen echt mies.

Also halt doch einfach mal Abstand und hör auf zu labern, ja?» Francis hatte ihren Platz an der Wand verlassen und schob Jannes jetzt nicht besonders sanft von Amy fort. Amy tat Francis leid. Ihr Plan beinhaltete, nie Kinder zu verletzten. Am liebsten hätte sie Amy umarmt, denn sie erinnerte sie an ihre ältere Tochter. Die pastellfarbenen Sachen, die Haare und die großen Augen. Ach, ihre Töchter, wie sehr sie sie vermisste. Bevor einer der drei allerdings die Unterhaltung hätte fortsetzen können, stand plötzlich Markus im Raum, gefolgt von Hans-Werner. Letzter ergriff das Wort, als Francis mit fragendem Blick zu ihm schaute. «Darf ich vorstellen: unser neues Teammitglied, Markus!» «Ok, macht das auch Sinn?» «Ja, definitiv, dann haben sie, was sie wollten», antworte Zara ihrer Freundin. Helena verstand zwar kein Wort von dem, was auf dem Bildschirm geschrieben stand, aber sie konnte es deutlich an der plötzlich veränderten Körperhaltung ihrer Freundin sehen. «Und wenn man hier jetzt Enter drückt, hat man den Code.» Zara hatte ihre Selbstsicherheit wiedergefunden.

Außerdem konnte sie nicht leugnen, dass sie sogar in dieser Situation Spaß hatte, dieses Programm zu entschlüsseln. «Ok, dann klopfe ich jetzt mal an die Tür und hole die beiden Süßen rein, bist du bereit?» Helena stand auf und lief zur Tür. «Bereit», antwortete Zara. Helena klopfte. Einen Augenblick später öffnete Shannon. 110 VII Noch bevor sie etwas hätte sagen können, entgegnete Helena ihr schon: «Ich bin fertig.» Jannes und Amy waren schockiert. Markus wollte mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen?! Auch Francis schien von der Idee nicht besonders begeistert zu sein und protestierte deutlich: «Was soll das werden, Hans?! Du willst eins von den Kindern mitnehmen? Und was laberst du für einen Mist, dass DER Friedrich ersetzen soll, hat dir ’ne Staubmilbe ins Hirn geschissen, oder was?» Hans-Werner schien weder überrascht noch eingeschüchtert.

«Halt mal die Luft an. Der Kleine ist korrekt, und außerdem hat er seine Oma an den Mist verloren, wie wir unsere Angehörigen. Wir nehmen den jetzt erstmal mit, und wenn er doch nichts draufhat oder kalte Füße bekommt, können wir ihn immer noch an eine Laterne binden oder so.» Francis war alles andere als überzeugt. «Dir ist schon klar, dass uns die Bullen das als Kindesentführung auslegen werden, oder? Ist das echt der Weg, den du gehen willst? Ich dachte, wir wollten hier eine saubere Geschichte rüberbringen und –» Hans-Werner fiel ihr ins Wort: «Genau, eine saubere Geschichte.

Als Bewegung, die die Wahrheit enthüllt. Und was passt da besser ins Narrativ, als dass wir andere Menschen so sehr von unserer Wahrheit überzeugen können, dass sie sich uns anschließen? Denk doch mal nach! Solange wir einfach nur zu viert bleiben, können uns Presse und Politik doch als Spinner abstempeln, aber wenn wir mehr Mitglieder gewinnen, dann sind wir eine richtige Bewegung, dann können sie uns noch viel weniger ignorieren!» Francis war alles andere als überzeugt, auch wenn sie nicht abstreiten konnte, dass der Punkt etwas für sich hatte. Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, knisterte Francis Walkie-Talkie. «Sachen packen, wir haben den Code!»

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