KRIMI-SERIE

«Moment mal, ein anderer Ausgang … Natürlich!»

Krimi-Serie, geschrieben von Mitgliedern der Schreibwerkstatt der Zentralbibliothek "Mark Twain" gemeinsam mit Autor Vincent Kliesch. - hier mehr 

12.03.23          Kapitel 8


Du bist fertig?» Völlig verblüfft sah Shannon Helena an. «Ja, bin ich», antwortet Helena selbstbewusst. «Na dann sag es uns, was ist der Code?»

Ungeduldig drängelte sich Pluto an Shannon und Helena vorbei in den Raum.

Er warf einen Blick auf den flackernden Laptop, doch er sah keinen Code, das Wirrwarr aus Zahlen und englischen Wörtern ergab für ihn auch keinen Sinn.

«Der Code steht da nicht. Nee, ihr müsst erstmal ins Internet, und dann eine Verbindung zu dem Konto herstellen.

Und dann drückt ihr Enter und schon habt ihr euer Passwort», erklärte Helena den beiden Terroristen, die sie erwartungsvoll anstarrten.

«Den Code», korrigierte Zara, «kein Passwort.» «Ja genau, den Code», mit einem Lächeln überspielte Helena ihre Unwissenheit. «Und warum machst du das nicht? Hä, erklär uns das mal!»

Pluto wurde zornig und erhob seine Stimme. «Ähm, na weil …», Helena wusste keine Antwort. «Na weil hier kein WLAN ist, natürlich», rettete Zara sie.

«Und außerdem würde ich das nicht mit dem alten Ding versuchen, der schafft solche hohen Rechenleistungen nicht», fügte sie noch hinzu.

Pluto schnaubte vor Wut und schlug beide Fäuste auf den Tisch, so sehr, dass der Laptopbildschirm für eine Millisekunde schwarz wurde. «Und was machen wir jetzt?», fragte Shannon verzweifelt.

Sie hatte sich dem Ziel so nah gefühlt, doch jetzt schien es schon wieder Komplikationen zu geben. «Hat jemand einen USB-Stick von euch? Dann können wir das Programm zur Entschlüsselung drauf ziehen und ihr führt es dann einfach mit einem anderen Laptop aus.» Zara stand auf und sah Shannon fragend an. «Äh, ein USB-Stick, ja klar, warte … ähm …», hastig und mit suchendem Blick lief sie durch den Raum, «hier, in der Tasche von Friedrich, da war einer, ich bin mir ganz sicher.»

Sie wühlte in der alten Laptoptasche, holte dabei Kabel, Adapter und noch so einigen anderen Kram heraus. «Hier!» Stolz hielt sie Helena den gefundenen Stick unter die Nase. «Okay, dann leg ich mal los, das ist ja ganz leicht … Zara! Willst du das nicht schnell für mich machen? Mir tun echt die Handgelenke weh vom stundenlangen Tippen.»

Helena setze ein schmerzverzerrtes Gesicht auf und begann sich die Handgelenke zu reiben, als würden sie schmerzen. «Ähm, klar, kann ich machen.» Zara nahm Shannon den Stick ab und steckte ihn selbstsicher in den Laptop. Dieser säuselte noch lauter als vorher. «Ey, setz dich neben sie und pass auf, dass sie auch ja alles richtig macht! Wir haben keine Zeit mehr!» Pluto fuchtelte mit den Armen umher. Helena setzte sich sofort neben Zara und tat so, als würde sie prüfen, was Zara tat.

«So, hier, da habt ihr ihn. Ist alles drauf. Ihr müsst den nur einstecken, das Programm starten und Enter drücken, das wars.» Zara reichte Shannon den Stick. Erleichtert griff diese zu und hielt ihren Triumph in Form eines grauen USB-Sticks in der Hand. Jedoch nicht lange. Pluto riss ihn ihr nur Sekunden später aus der Hand und setzte sich auch schon in Bewegung. Er steckte den Stick in seine Hose und nahm mit der anderen Hand das Walkie-Talkie. «Sachen packen, wir haben den Code!», sagte er zu Francis am anderen Ende.

«Verstanden», kam es von Francis zurück. Pluto warf Shannon die Schlüssel zu und verschwand. Für einen Moment war nicht weiter als das Klirren der Schlüssel und Plutos Schritte zu hören, der schnurstracks auf dem Weg zur Treppe war. Shannon stand nun ganz verdattert da und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Hände schmerzten von dem Aufprall der Schlüssel. Oh Gott, die Schlüssel! «Pluto, warte, du brauchst doch die Schlüssel für die Kellertür!», rief sie ihm nach. «Ach, das passt schon!», hörte sie es vage durch das Kellergewölbe hallen. Sie runzelte ihre Stirn und schüttelte den Kopf. Flüchtig sah sie in den Raum zu den beiden Freundinnen, die krumm vor dem Laptop saßen. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, gefolgt von einem Klirren, das bis in die Ewigkeit widerhallen sollte. Die drei zuckten zusammen.

«Ach Pluto …» Shannon schüttelte den Kopf. So hatte Pluto also das Schlüsselproblem gelöst, mit seiner Waffe. «Gewalt, warum muss es immer Gewalt sein», dachte sie. «Naja, wir sind ja nicht gerade besser.» Bevor sie weitere Zweifel erreichen konnten, drehte sie sich entschlossen zu den Mädchen um. «Macht keinen Blödsinn», sagte sie weniger bedrohlich als sie erhofft hatte. Sie schloss die schwere Feuertür und drehte den Schlüssel einmal um.

Das Schloss musste schon uralt sein, denn der Schlüssel löste sich nur äußerst schwierig. Nachdem sie den Gang entlang hastete, kam sie an der Treppe vorbei und erblickte das zerschossene Schloss und die tausend Glassplitter. Erneut schüttelte sie den Kopf und ging dann zügig weiter. Sie rannte förmlich durch den kühlen Keller.

Endlich war sie bei den Toiletten angekommen, bog nach links ein und lief gerade auf den Strafarbeitsraum zu. «Na ihr», sagte sie etwas außer Atem und legte den Schlüsselbund auf das Regal direkt neben dem Eingang, «kann ich kurz mit euch reden?» «Klar, was gibts?» fragte Francis genervt wie immer. «Naja, wir haben ein kleines Problem: Was machen wir jetzt mit den Bälgern? Hierlassen, einschließen oder mitnehmen?» Shannon sah rasch von Hans-Werner zu Francis.

Hans-Werner schien auch ratlos zu sein, aber in Francis fing es anscheinend an zu brodeln. «Ja toll, was machen wir jetzt mit denen?! Gut, dass KEINER den entscheidenden Punkt unseres Plans durchgedacht hat!» Francis wurde lauter und massierte sich energisch die Stirn. Sie lief auf und ab und dachte angestrengt nach. Ab und an seufzte sie. «Man, verdammt!» Sie begann zu fluchen. Keiner der anderen Anwesenden sprach auch nur ein Wort. «Gut, dann bleibt ihr hier. Ich hole erstmal den Laptop und überlege mir was», sagte sie durch zusammengebissene Zähne, «Shannon, gib mir einen der Schlüsselbunde.» Wortlos überreichte Shannon Francis den Schlüsselbund, den der Hausmeister vergessen hatte und Francis stapfte los.

Unterdessen hatte Tom das Fenster gefunden, das Lucia jetzt mit ihm gemeinsam Stück für Stück nach oben schob. Es klemmte in seinem Rahmen, seine Führung war wahrscheinlich seit einem Jahrhundert nicht mehr geölt worden. Aber das war ihre Rettung gewesen. Wer auch immer es zuletzt schließen wollte – wahrscheinlich hatte Deutschland damals noch einen Kaiser gehabt –, hatte es nicht das letzte Stück bis zum Schloss herabbekommen.

Also schoben sie es jetzt gemeinsam, stemmten es mehr durch eine Ewigkeit von Rost und Vernachlässigung. «Warte, ich glaub, das reicht!» unterbrach Tom plötzlich das Werk, um sich direkt im Anschluss durch die Lücke zu drängen. Ein Knall ertönte plötzlich. Beide erschraken und hielten inne. «Was war das? Ein Schuss?» «Keine Ahnung. Aber auf jeden Fall war das das Zeichen dafür, dass wir ganz dringend hier raus müssen!»

Tom wartete keine Sekunde länger und drückte sich durch das Fenster. Lucia hörte ihn zischen, konnte an seinem verkrampften Gesicht die Flüche sehen, die er unterdrückte, als er sich verrenkte wie ein Turner, um in den kleinen Lichtschacht außerhalb des Kellers zu kommen. Es gelang, und kurz darauf stand auch Lucia außerhalb, atmete zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit die Luft, die frische, herrliche Luft außerhalb des Schulkellers.

Tom packte die Kante am oberen Ende des Lichtschachtes, zog sich nach oben und streckte dann Lucia die Hand entgegen. Sie waren frei. Lucia putzte sich mit den Händen die Kleidung sauber und richtete sich auf, bereit wegzusprinten.

Doch da ertönte es, ein metallisches Klicken, ein Laut mit der Schärfe eines legendären Schwerts, ein Geräusch von der Endgültigkeit eines letzten Atemzuges. Hinter ihnen stand Pluto, mit der linken Hand hatte er den Hahn der Pistole gespannt, die er mit der rechten Hand auf sie gerichtet hielt. «Endstation, Punks!» Francis stampfte die grell erleuchteten Flure entlang. «Man, warum haben wir darüber nicht vorher nachgedacht? Was machen wir nur mit den Kindern? Einsperren? Oder doch mitnehmen und im Wald aussetzen?»

Egal, ihr würde schon was einfallen. Sie erreichte den Raum, in dem sich die beiden Mädchen befanden und schloss hastig auf. «Mist, die Scheiße klemmt ja.» Sie ruckelte gewaltsam an dem alten Schloss herum. «Endlich!» Die Tür sprang auf. Zara und Helena saßen immer noch zusammen auf dem Holzstuhl vor dem Laptop.

Helena guckte Francis verwundet an, als diese plötzlich den Raum betrat. Eher hatte sie mit Shannon gerechnet. Zara hingegen war merkwürdigerweise immer noch in den Laptop vertieft. Sie schien das Programm, das da vor ihr flackerte, genauestens zu studieren. Ab und an murmelte sie etwas vor sich hin. Helena tippte sie energisch an, als Francis den Raum betrat, sie befürchtete nichts Gutes.

Doch Zara war so vertieft, dass sie Helena völlig ignorierte. «Keine Sorge, ich mach nichts, ich will nur den Laptop holen.» Francis hatte Helenas besorgten Gesichtsausdruck bemerkt und fing an, die Kabel und das ganze andere Zeug einzusammeln, welches Shannon vorher auf dem Tisch verteilt hatte. Helena versuchte weiter, Zaras Aufmerksamkeit auf Francis zu lenken, doch sie murmelte nur weiter vor sich hin, allerdings lauter als zuvor.

«Das kann nicht sein, das … nein … niemals.» «Was ist los?», wollte Francis wissen. Auch Helena war verwirrt. Was machte ihre Freundin da? Sie hatten es doch geschafft. «Das … ihr … ihr habt uns belogen!» plötzlich sprang Zara auf. «Das ist niemals ein Programm, um ein Bankkonto zu knacken, sondern es schaltet nach dem Überwinden der Verschlüsselung einen Auslöser ein! Hier, dass sieht man da ganz deutlich, es ist ein Auto-Run-Pfad. Wofür braucht ihr einen automatischen Auslöser? Und die Geschichte mit der Bank ist lächerlich, also spar sie dir!»

Francis war ganz verdattert. Warum hatte denn jetzt die andere Kleine plötzlich Ahnung von dem Computer-Kram? «Was laberst du da? Auto-Run? Hast du einen Schlaganfall?», fragte sie spöttisch und räumte weiter die Sachen zusammen. «Nein, ganz sicher nicht! Nur im Gegensatz zu dir verstehe ich, was hier geschrieben steht und was man damit macht.» Helena erkannte ihre Freundin gar nicht wieder. «Wie, warte, was? DU kannst den Scheiß da lesen? Und sie hier? Ihr habt uns verarscht, oder?» Francis stoppte abrupt das Einpacken.

«Naja, also, verarscht würde ich das nicht nennen, also wir …», weiter kam Helena nicht. «WAS IST AUF DEM STICK? HÄ, SAGTS MIR!» Francis war um den Tisch rumgelaufen und packte Zara am Oberteil. «Da ist nichts drauf. Beziehungsweise ist da nur dieses hübsche Programm drauf, aber nicht die Entschlüsselung.» Zara schrie Francis regelrecht an. Helena bekam Angst. «Du bluffst doch, das hättest du dich nie getraut!»

Francis ließ sie wieder los. «Und was, wenn doch? Was ist, wenn ich euch nicht bei eurem fiesen Plan, irgendwas in die Luft zu jagen, geholfen hätte? Hä, was würdest du dann machen?» «DIESER PLAN», Francis mäßigte ihre Stimme, «dieser Plan ist das Werk von monatelanger Arbeit. Wir brauchen diesen Code und wir brauchen ihn HEUTE! Denn nur heute, du kleine schlaue Bohne, nur heute ist das Live-Interview mit diesen Mistkerlen! Und ich lasse nicht zu, dass du es uns versaust! Diese Affenärsche müssen bezahlen für das, was sie uns angetan haben! SIE WERDEN BEZAHLEN! Und ICH werde persönlich dafür sorgen!»

Francis laute Stimme hallte noch nach in dem kleinen Kellerraum. Zara erkannte, dass sie alles zu hundert Prozent verschlimmert hatte. Hilfesuchend sah sie zu Helena. Doch auch sie sah nun keinen Ausweg mehr. Francis lief zur Tür und verschloss sie. Fast zeitgleich griff sie nach ihrem Walkie-Talkie. «Francis an Hans-Werner, bitte kommen», ertönte Francis’ aggressive Stimme durch das Walkie-Talkie. Wenn man ihre Aggressionen durch das steinalte Ding hören konnte, wie wütend war sie dann wohl wirklich? Keiner wollte sich dies vorstellen.

Hans-Werner griff nach seinem Walkie-Talkie. «Bin da», nach einer kurzen Pause fügt er ein etwas verängstigtes «Over» hinzu. «Wir haben ein kleines Problem, denn die liebe BitBiter», sie betonte jede einzelne Silbe so, dass Hans-Werner am anderen Ende zusammenzuckte, «hat uns angelogen. Ihr müsst Pluto zurückholen! Wenn er einen falschen Code eingibt, geht die Bombe nicht hoch und das heißt, alles wäre umsonst gewesen!» Jannes und Amy zuckten zusammen. «Wird erledigt, Chefin», sagte Hans-Werner salutierend.

«Komm Junge, du hast gehört, was sie gesagt hat. Junge?» Markus starrte ins Leere. Vieles ging ihm anscheinend durch den Kopf. Erst jetzt, nach einem dritten Auffordern von Hans-Werner wachte er auf. «Äh, ja klar, gehen wir.» Seine Stimme stotterte etwas. «Wie kannst du nur, du kleines Arschloch! Jetzt einen auf verbündet machen, ja? Ich wusste, dass du schon immer ein mieses Schwein warst!» Jannes stand vom staubigen Boden auf und lief ein paar Schritte auf Markus zu. Nicht nur Jannes war völlig außer sich.

«Markus, was soll das denn? Hast du nicht gehört, was sie vorhaben? Du kannst immer noch das Richtige tun! Markus, bitte!» Amy wollte das alles nicht wahrhaben. Markus schwieg. HansWerner verließ den Raum und guckte Markus auffordernd an. Innerlich zerriss Markus und ertrank in Verzweiflung. Schweigend drehte er sich um und Hans-Werner und er verschwanden aus dem Sichtfeld der beiden Schüler.

Amy atmetet gequält aus und eine Schmerzwelle überrollte sie. Jannes wurde auf Amy aufmerksam, wandte sich von der Tür ab und drehte sich zu Amy. Er musste doch irgendetwas machen könnten. Er hatte keine Lust mehr, in diesem bescheuerten Keller zu sein. Er sah zur Tür, zu Shannon, die gerade ihre Nägel betrachtete, und wieder zur offenen Tür. «Wieso macht ihr das? Wieso müsst ihr gerade mich einsperren? Nehmt von mir aus diese ganzen Looser, aber warum müsst ihr ausgerechnet MICH nehmen? Immer hat man es auf mich abgesehen! Natürlich zielt jegliche Scheiße auf mich ab. Aber damit ist jetzt Schluss! Endstation. Aus die Maus.»

Francis legte ruhig das Walkie-Talkie beiseite. «So, nun zu dir, kleines Beißerchen. Wir werden doch mal sehen, ob ich dich nicht doch überzeugen kann, uns zu helfen. Ich meine, immerhin habe ich doch ganz lieb Bitte gesagt, nicht wahr? BITTE!» Francis zog in Sekundenbruchteilen ihre Waffe. Sie zielte direkt auf Zara und ging ganz langsam immer weiter auf sie zu. Zara erstarrte und riss die Arme in die Höhe. «Das nützt dir nichts. Setz dich hin und fang an zu schreiben!» 120 121 VIII VIII Zara tat, was von ihr verlangt wurde.

Rückwärts ging sie zum Stuhl zurück und setzte sich. Helena stand vorsichtig auf, um ihr Platz zu machen. Francis platzierte sich direkt hinter Zara, so dass diese auch die Präsenz der Waffe in ihrem Nacken fühlte. «Warte mal. Es bringt dir doch gar nichts, mich zu erschießen! Du brauchst mich. Niemand sonst kann das Programm hacken! DU brauchst MICH.» Francis musste sich eingestehen, dass sie recht hatte.

Zara bemerkte Francis Zögern und fühlte sich wieder selbstsicherer. Doch Francis war nicht dumm. So schnell, dass Zara es gerade schaffte, sich umzudrehen, machte Francis große Schritte auf Helena zu, griff um ihren Hals und drückte ihr die Waffe an die Schläfe. Zara riss die Augen auf. «So und jetzt schreib, Beißerchen.» «Jetzt komm mal runter.»

Shannon wandte ihren Blick von ihren Fingernägeln ab und machte einen Schritt auf Jannes zu. Seine Arme waren leicht angewinkelt und angespannt. Er baute sich ganz aufrecht vor Shannon auf, drückte die Brust raus und biss die Zähne fest aufeinander. «Hast du etwa Angst?», spöttelte er. Shannons Blick verfinsterte sich.

Wie konnte dieses kleine unverschämte Balg sich so etwas rausnehmen?! Jannes ging noch einen Schritt auf Shannon zu und stichelte weiter: «Hättet ihr nicht einfach einen anderen Samstag nehmen können, um euren wundervollen, grausamen Plan durchzusetzen? Oder hat eine von euch ihre Tage und ist deshalb so gereizt? Ach naja, wie das bei euch Frauen so ist, ne. Kein Wunder, dass ihr nichts auf die Reihe bekommt. Aber mehr kann man ja auch von euch Dummchen nicht erwarten, nicht wahr? Geh lieber an den Herd kochen, Schätzchen!»

Shannon brodelte vor Wut, jetzt war das Fass am Überlaufen. Sie war schon lange nicht mehr so wütend gewesen. Dieser kleine Mistkerl hatte doch keine Ahnung! Wie konnte er sich anmaßen, so mit ihr zu reden?! Die Verzweiflung, der ganze Frust, die seelische Anspannung der letzten Stunden in ihr wandelten sich in Wut.

Schnaubend ging sie auf Jannes zu und holte mit der rechten Hand aus. Jannes Plan ging auf. Gekonnt duckte er sich unter ihrem Schlag hinweg. Noch im selben Moment holte er mit aller Kraft aus und verpasste Shannon einen heftigen Schlag in die Magengrube. Shannon schrie schmerzerfüllt auf und taumelte nach hinten. Jannes rieb sich die Faust. Diesen unaufmerksamen Moment nutzte Shannon. Unerwartet schnell rannte sie auf Jannes zu und warf ihn zu Boden. Jannes prallte ungebremst auf den harten Boden und seine Lunge zog sich zusammen.

 Nach Luft schnappend blieb er liegen. Shannon erhob sich siegessicher und drehte sich mit einem fiesen Grinsen wieder zur Tür um. Doch zu früh gefreut: Jannes sah seine Chance! Er stemmte sich hoch auf die Knie und griff Shannon’s Beine. Erschrocken ging diese erneut zu Boden. Jannes hievte sich auf Shannons Rücken, nahm ihren linken Arm und drückte ihn zwischen ihre Schulterblätter. Shannon stöhnte auf vor Schmerzen und versuchte sich vergebens zu befreien.

Mit seinem anderen Arm drückte Jannes ihren Kopf auf den staubigen Boden. Ewig würde er sie nicht aufhalten können. Sein Blick wanderte zur offenen Tür. Wie lange würde es dauern, zu entkommen? Würde er es schaffen, Shannon lange genug festhalten zu können? Er drehte sich zu Amy um, die völlig erstarrt und fassungslos das Geschehen verfolgt hatte, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. «Lauf, Amy, lauf!», brüllte Jannes mit krächzender Stimme.

Seine Worte hallten in ihren Ohren wider, ohne dass sie begriff, was sie bedeuteten. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, bewegungslos schien sie mit der Wand hinter sich verschmolzen zu sein. «Jetzt lauf schon! Ich kann sie nicht mehr lange halten!» Die Verzweiflung in seinen Worten schien Amy endlich zu erreichen. Mit ihrer letzten Kraft stemmte sie sich vom Boden auf, zögerte kurz und warf einen Blick auf Jannes, der sie auffordernd ansah.

Endlich rannte Amy los, sie rannte so schnell sie konnte. Ihre Füße flogen förmlich über den Betonboden. «Halt», dachte sie ohne wirklich stehen zu bleiben. Sie musste sich doch überlegen, wohin sie überhaupt rennen sollte. Sie verlangsamte ihr Tempo, nein, sie blieb sogar stehen. Ihre Kräfte waren so gut wie aufgebraucht nach diesem 100 Meter Sprint. Nur wenige Meter vor ihr waren die Toiletten. Sie lehnte sich an die Wand, Schmerzen durchfluteten ihren Körper.

Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Moment, sie riss ihre Augen auf. Waren das Schritte, die sie hörte? Panisch überlegte sie. Natürlich, die Toiletten! Die waren erstmal das perfekte Versteck. Sie guckte sich noch einmal zu allen Seiten um, rannte dann zur hintersten Kabine und verriegelte die Tür.

«Denk nach Amy, denk nach», flüsterte sie. «Ok, wir brauchen … die, die Polizei! Oh Gott, ich muss hier raus. Aber einfach so rausspazieren wird wohl nicht gehen, wegen Markus und diesem Typen. Ok, dann muss ich durch irgendein Fenster klettern, so schwer kann das ja nicht sein. Aber ich habe kein Handy! Es muss doch einen anderen Ausweg geben!», Amy strich sich mit beiden Händen kleine Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. «Moment mal, ein anderer Ausgang … Natürlich!» Wie aus dem Nichts fielen ihr die Worte des Hausmeisters wieder ein.

Vor einigen Wochen hatte Lucia eines ihrer Bücher in der Schule vergessen. Es regnete fürchterlich und Lucias bunter Regenschirm war kaputt gegangen. Die beiden hatten sich deswegen einen Regenschirm geteilt. Völlig durchnässt und ausgekühlt gingen sie danach noch in Lucias Lieblingscafé. Lucia bestand darauf, ein Selfie zu machen, und auf Amys Nachttisch stand seither dieses Foto.

Es war so ein Erlebnis, das man teilt und dadurch noch enger zusammenwächst. «Konzentriere dich, Amy», unterbrach sie ihre Erinnerungen. Sie lenkte ihre Erinnerungen wieder zurück zum vermissten Buch und zur Schule. Die beiden Freundinnen wurden vom Hausmeister reingelassen. Als Lucia ihr Buch gefunden hatte, wollten sie die Schule durch den Seitenausgang verlassen.

«Niemals durchn Seitenausjang am Wochenende rausjehen. Sonst wird een stummer Alam ausjelöst und dann kommt die Polizei, wenn ick keenen Sicherheitscode einjebe, und dat wollen wa ja nich», sagte der Hausmeister damals. Seine Worte hallten in Amys Erinnerungen wider. Dies sollte wohl sein letzter Ratschlag an Amy sein. Aber das war genau das, was sie jetzt brauchten! Einen stummen Alarm! Das könnte die Rettung sein. Markus und der Mann, dessen Name sie nicht kannte, hatten bestimmt schon längst die Schule verlassen. Amy hatte einen Plan. Entschlossen öffnete sie die Tür der Kabine, lief den Gang Richtung Treppe und stapfte hinauf in das Foyer. Sie erschrak. «Amy, was machst du?»

«Ich, ich … Ich dachte ihr seid schon weg», flüsterte sie erschöpft. Verdammt, sie war Markus und dem Terroristen genau in die Arme gelaufen. Verängstig blieb sie wie angewurzelt stehen. Die gerade wiedergewonnene Energie wich aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Ballon, der kleine Funken Hoffnung erlosch. Im Augenwinkel sah sie die Leiche des Hausmeisters, die in einer Blutpfütze lag. Sie traute sich nicht direkt hinzusehen, in seine leeren Augen.

Dieses Bild würde sie ewig verfolgen. Aber auch die anderen beiden ihr gegenüber schien der Anblick zu bedrücken. «Markus, du kannst immer noch das richtige tun», versuchte sie kraftlos an ihren Mitschüler zu appellieren. «Ach, komm schon. Denkst du echt, dass er auf dein Gelaber eingeht», konterte Hans-Werner. «Er ist jetzt einer von UNS.» Markus Blick wanderte unentschlossen zwischen den beiden hin und her. Hans-Werner blieb das nicht verborgen. «Ach, bist du dir doch nicht sicher, oder was? Du musst dich entscheiden. Welche Seite wählst du, Markus?»

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