KRIMI-SERIE

Weil man Blut nicht mit Blut rächt

 Also gut, dann ist es jetzt wohl an der Zeit, sich für ein Team zu entscheiden.» Markus’ Blick wechselte zwischen Amy und Hans-Werner hin und her.

So, als taxiere er die beiden, als berechne er seine Optionen. «Ich kann als tapferer Kämpfer für die Gerechtigkeit untergehen.

Oder, ich schließe mich den Stärkeren an und überlebe.» Hans-Werner trat unsicher, aber zügig an den Schüler heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

«Wenn du uns hilfst, unsere Angehörigen zu rächen, dann lassen wir dich und deine Freunde gehen. Wir haben kein Problem mit euch, wir brauchen einfach nur diesen Code.»

«Und wenn er das nicht tut?» Amy atmete immer schneller, die schlimmsten Szenarien schossen ihr durch den Kopf. «Dann werden wir unseren Plan wohl leider ändern müssen.» Er nahm die Hand wieder von der Schulter des Jungen.

«In diesem Fall sterben ein paar unschuldige Schüler, weil sie den wahren Tätern geholfen haben, anstatt uns dabei zu helfen, sie zu bestrafen. Das ist wirklich keine schöne Option, aber wir würden damit auch einen großen Effekt erzielen.»

Noch ehe Amy etwas dazu sagen konnte, wandte sich Markus auch schon zu dem Terroristen um. «Also gut, ich habe jetzt echt genug gehört. 

Es wird Zeit, das Ganze hier zu beenden. Ich verrate dir jetzt was: Zara ist brillant als Hackerin.

Aber sie lässt sich auch nicht gern von Leuten benutzen, die einen unschuldigen Hausmeister ermorden und ihr und ihren Freunden Waffen an den Kopf halten.

Wenn ihr Zara euren Code knacken lasst, dann wird sie ihn dabei so manipulieren, dass er im entscheidenden Moment nicht mehr funktioniert. Indem ihr ihn dann nämlich eingebt, deaktiviert er sich selbst.

Sie hat mir mal davon erzählt, wie sie das macht. Und weißt du, was sie mir noch erzählt hat?» «Halt die Klappe, du Scheißverräter!» Amy spuckte in Markus‘ Richtung.

 «Sei ruhig!» Hans-Werner packte den Jungen und wand ihn zu sich um. «Also, was hat sie dir gesagt?» Markus wollte gerade antworten, hatte sogar schon den Mund geöffnet und zum Reden angesetzt, da kam Hans-Werner ihm zuvor.

«Warte mal, Zara?! Das war doch die Kleine, die bei euch mit im Archiv gesessen hat, oder nicht?» Markus’ Mundwinkel verzogen sich zu einem fast schon diabolischen Lächeln. «Ich habe wohl schärfere Augen als du.» Hans-Werner biss aggressiv die Zähne aufeinander, sodass man ein leises Knirschen hören konnte. «Verarsch mich nicht!»

«Ich werde hier ganz sicher nicht sterben, damit irgendwelche Verbrecher, die ich nicht mal kenne, am Leben bleiben können. Und ja, natürlich ist es Zara. Was meinst du, warum sie so unbedingt in den Raum zu Helena gehen wollte? Ganz sicher nicht wegen irgendwelchen Notizen. Völliger Schwachsinn. Also, Zara hat mir gesagt, wie sie das mit dem geheimen Sperrcode macht. Und auch, wie man es wieder rückgängig machen kann.

Bring mir den Rechner, sobald sie sagt, sie habe den Code geknackt. Ich deaktiviere dann ihre Sperre, und ihr könnt euren Plan durchziehen. Im Gegenzug verpisst ihr euch endlich und lasst uns in Ruhe.» Noch ehe Hans-Werner darauf antworten konnte, war Amy auch schon losgestürmt. In Richtung Seitenflügel, an den Klassenräumen vorbei, wo die Ausgänge waren. Der schwere Mann lief ihr nach, doch sie war schneller.

Nach wenigen Sekunden hatte Amy den Seitenausgang erreicht und wollte die Tür aufreißen. Doch diese klemmte. War ja klar. Diese alte Bruchbude. So kräftig sie nur konnte, warf sich das Mädchen dagegen, doch schon gleich darauf spürte Amy, wie sie selbst es war, gegen die etwas stieß. Hans-Werner war aus vollem Lauf so kräftig auf Amy und die Tür zugestürmt, dass die Wucht seines Aufpralls das ohnehin veraltete Schloss durchbrach, woraufhin die Tür aufsprang und die beiden zu Boden stürzten.

Sekundenlang lagen Amy und der Mann keuchend am Boden. Amy war es schließlich, die zuerst wieder zu Kräften kam und aufsprang. Adrenalin sprudelte durch ihren ganzen Körper, sodass sie jegliche Schmerzen vergessen hatte. Doch kaum, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte, packte sie auch schon eine grobe Männerhand am Knöchel und brachte sie dazu, wieder zu Boden zu stürzen.

«So ganz allmählich habe ich die Schnauze von euch Kindern voll!» Damit erhob sich Hans-Werner, packte Amy ruppig an den Schultern und brachte sie zurück in den Keller, wo die anderen waren. «Was war denn das für ein Lärm bei euch?» Francis warf Hans-Werner und den beiden Teenagern in seiner Begleitung eisige Blicke zu.

In dem Moment tauchte plötzlich Shannon mit Jannes neben ihnen auf. «Was macht denn Hans-Werner noch hier? Ich dachte, ihr wolltet Pluto aufhalten! Oh, ihr habt unseren kleinen Flüchtling. Der Knabe hier war der Meinung, er müsse sich mit mir prügeln, damit die Kleine da abhauen kann, aber falsch gedacht, was, ihr beiden?!» Sie warf Amy und Jannes einen rechthaberischen Blick zu, und platzierte Jannes dann in einer Ecke des Raumes.

«Na, plötzlich biste ganz still. Ich hab wohl vergessen zu sagen, dass sich niemand einfach so mit mir anlegen sollte.» Jannes hatte wirklich nichts mehr zu sagen. Sein Gesicht schmerzte, seine Nase blutete und er hatte schreckliche Rückenschmerzen, die ihm jegliche Kraft nahmen. Fragend sah Shannon ihre Komplizen an.

«Alles okay, ich habe die Lage unter Kontrolle.» Hans-Werner sah geschunden aus, seine Kleidung war schmutzig und er hatte eine Schramme an der linken Wange. Pluto und den Stick hatte er völlig vergessen. Unsanft schubste er Amy in den Raum und platzierte sich breitbeinig vor der offenen Tür. «Sieht gar nicht so aus!» Francis verdrehte die Augen. «Also, was ist jetzt? Hat BitBiter den Code geknackt, oder soll meine Pistole stattdessen BitBiter knacken?»

Francis trat an Zara heran, wendete die Pistole von Helena ab und richtete sie erneut auf Zara. «Mach es nicht, Zara!» Amy wollte auf ihre Freundin zustürzen, doch Francis richtete den Lauf der Waffe jetzt auf sie, während sie den Griff um Helenas Kehle festigte. Diese hatte nun ernsthafte Schwierigkeiten zu atmen und fasste reflexhaft an Francis Arm, in der Hoffnung, sie würde loslassen. Doch Francis interessierte das schlichtweg nicht. «Ich zähle bis drei! Eins.»

Sie sah zu Zara, die eifrig auf den Tasten herumtippte. «Zwei.» Sie spannte den Hahn der Waffe. «Und …» «Ist ja schon gut!» Zara sprang von ihrem Sitz auf und drehte den Laptop so herum, dass Francis den Monitor sehen konnte. «Da ist euer blöder Code.» Amy sah schwer atmend in den Lauf der Waffe. Seltsam, ging es ihr durch den Kopf. Obwohl sie noch nie zuvor mit einer Pistole bedroht worden war und diese Art des Sterbens nun wahrlich nicht zu den alltäglichen gezählt werden konnte, spürte sie, dass eine Intuition, die ganz tief in ihren Instinkten verwurzelt schien, sie lähmte.

So, als hätten schon Generationen von Menschen vor ihr regelmäßig in Pistolenläufe gesehen. Als wäre diese vollkommen fremde und absurde Situation der Archetyp einer evolutionär übermittelten Lebensbedrohung.

Alles, woran sie jetzt denken konnte, war, den Mund zu halten. Sich nicht zu bewegen, nicht zu blinzeln und auch sonst nichts zu tun, was diese Verrückte mit der Waffe in der Hand auch nur zum Zucken bringen konnte. Nur eine kleine Bewegung ihres Fingers, und alles wäre vorbei. «Und, war das jetzt so schwer?»

Francis senkte die Waffe, ließ Helena los und griff nach dem Laptop. Helena atmete auf, hustet kurz und rieb sich ihren schmerzenden Hals. Sie wandte sich Zara zu, wollte ihr gerade etwas zuflüstern, denn mehr ließ ihre Stimme in diesem Moment nicht zu. Doch Hans-Werner kam ihr zu vor. «Gib ihn dem Jungen.» Hans-Werner sprach zu Francis, als sei er ihr Boss, was sich sofort in deren Blick widerspiegelte. «Tickst du noch ganz sauber?»

Francis sah ihren Verbündeten an, als sei dieser soeben verrückt geworden. «Dieses kleine raffinierte Miststück hat eine Sperre eingebaut.» Hans-Werner schien über sich hinauszuwachsen, nicht ein Mal zuvor hatte er so mit seiner Komplizin gesprochen. «Der Junge deaktiviert das wieder. Dann können wir den Sprengsatz zünden.»

«Alter, das hast du nicht gemacht?» Zara erhob sich und trat an Markus heran, als habe sie sich die Anwesenheit der Frau mit der Waffe in der Hand nur eingebildet. «Wenn du einfach deine Schnauze gehalten hättest, dann wären diese Arschlöcher jetzt einfach abgezogen. Ich hatte es sogar so programmiert, dass sie mit der Deaktivierung des Codes automatisch ihren Standort an die Polizei senden.»

«Vielleicht will ich das ja gar nicht.» Markus griff den Laptop und sah kurz auf den Monitor, bevor er sich wieder Zara zuwandte. «Diese Leute haben es verdient, für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sieh dich doch nur um. Die haben ihre Familien und ihr Zuhause verloren. Sie haben sich ihre Rache verdient.

Und wir haben es verdient, dass die uns in Ruhe lassen. Wenn ich nicht mit denen kooperiert hätte, wären hier heute noch mehr Menschen gestorben. Soll ich mich etwa für ein paar profitgeile Arschlöcher opfern?»

«Los, bau die Sperre aus.» Francis richtete die Pistole jetzt auf Markus. Dieser nickte nur und begann, Zahlen- und Buchstabenreihen zu tippen. Scheinbar endlos lang. So lange, bis Francis schließlich unruhig wurde. «Hast du es bald?» «Ja, das ist halt ein sehr komplexer Code, gleich bin ich durch.» «Seltsam.» Hans-Werner klang beunruhigt. «Was war das?» Pluto blickte sich erschrocken um. Sein Blick wanderte über den Schulhof und blieb schlussendlich bei den beiden Schülern ihm gegenüber hängen.

«Wart ihr das, hä? Ist das Teil eures Fluchtplans, oder was?» Er wedelte mit der Pistole vor Lucia und Tom herum, die die Bewegungen mit aufgerissenen Augen verfolgten. «Hören Sie, Mister, wir wissen nicht, was da gerade so gekracht hat, aber bitte, wirklich, ich bitte Sie aus tiefstem Herzen, lassen sie uns gehen. Wir sagen auch nichts, versprochen!»

«Großes Indianerehrenwort, oder was?!» Pluto grinste schief, lachte sogar kurz, als er Lucias Bitte hörte. «Nein, wirklich! Bitte glauben Sie uns! Wir wollten das doch alles nicht … Das war doch nur ein dummer Zufall. An jedem anderen Samstag wären wir gar nicht da gewesen!

Wissen Sie, ich habe auch viel zu tun! Ich habe ein Social-Media-Imperium aufzubauen! Meine Follower verlassen sich auf mich! Ich habe nämlich …»

«SCHNAUZE!» Pluto unterbrach Lucia aufgeregtes Geplapper. Das Mädchen verstummte augenblicklich und sah ihr Gegenüber verängstigt an. Pluto wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Die Situation stresste ihn sichtlich. Lucia nutze diese Sekunden und sah verzweifelt zu Tom herüber. Wie angewurzelt stand er neben ihr, die Arme in der Luft neben seinem Kopf, bewegte sich keinen Millimeter und sah versteinert auf die Pistole in Plutos Hand.

Verzweiflung war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er erwiderte Lucias suchenden Blick ratlos. «Sooo», Pluto atmete seufzend aus, «wat machen wa jetzt? Ich habe wirklich keine Lust euch abzuknallen, aber mitnehmen kann ich euch auch nicht. Also, habt ihr Vorschläge?»

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Lucia runzelte die Stirn und sah hilfesuchend zu Tom. Doch er war genauso verwundert über die Worte ihres Geiselnehmers. «Ähhh, na wir könnten ja wieder rein gehen. Hier draußen ist es sowieso viel zu kalt.

Hier, schauen Sie, meine Finger sind schon ganz blau! Das passt gar nicht zu meiner Maniküre. Wie grässlich.» «Sag mal, redest du eigentlich immer so VIEL?» Pluto brüllte fast über den leeren Schulhof, so sehr brachte Lucias schnelles Gebrabbel ihn auf die Palme. «Tut mir leid, Mister … Mister … wie heißt du eigentlich? Also, ich bin Lucia Delgado.»

«Warum sagst du ihm das?!» Tom sah sie vorwurfvoll an. «Na weil wir doch jetzt eh noch ne Weile hier sind oder nicht? Als ob er uns jetzt einfach gehen lässt, träum weiter, Tom.» «Sag doch nicht meinen Namen!»

«Warum nicht? Bis auf sein kleines Aggressionsproblem scheint er doch ganz nett zu sein, aber das respektieren wir natürlich, niemand muss sich hier schämen, ok?» Lucia hatte die Pistole vor ihnen anscheinend komplett vergessen. «Ihr haltet jetzt beide eure Klappe kapiert?! Ich muss nachdenken!»

«Entschuldigung? Hallo? Was machen Sie hier? Das ist unbefugtes Betreten von Privatgelände, ich muss Sie bitten, sofort das Schulgelände zu verlassen. Hallo? Junger Mann, haben sie mich verstanden? Ah, oh, ihr Kinder müsst auch gehen. Heute ist doch Samstag, was macht ihr denn freiwillig in der Schule?!»

Keiner der drei rührte sich. Lucia sah zu Tom, zu Pluto und zu den beiden Polizisten, die eben den Schulhof betreten hatten, dann wieder zu Pluto. Seine Augen waren weit aufgerissen, er schwitzte, dann drehte er den Kopf ganz langsam, um sehen zu können, wer da von hinten gerade mit ihnen gesprochen hatte. Die Polizisten liefen jetzt über den Schulhof, immer weiter auf sie zu, doch plötzlich stoppte einer von ihnen:

«Was haben Sie da in der Hand?» In Sekundenbruchteilen griff er an seinen Gürtel und richtet seine Schusswaffe auf Pluto. Er murmelte irgendwas zu seinem Kollegen, der griff nach seinem Funkgerät, flüsterte eine unverständliche Abfolge von Wörtern und Zahlen, griff dann auch nach seiner Schusswaffe. «Drehen Sie sich sofort um und lassen Sie die Waffe fallen!» Energisch wiederholte der Polizist seine Drohung. «Lassen Sie sofort die Waffe fallen!»

Doch Pluto rührte sich keinen Millimeter. Tom atmete immer schneller, er bekam Panik. Immerhin waren jetzt drei Pistolen auf ihn und Lucia gerichtet.

Hilfesuchend sah er einem der Polizisten in die Augen, die Arme hielt er noch immer in die Luft. Eine Bewegung - und alles wäre vorbei. Er ging zu Boden.

Seine Knie versagten sein Gewicht zu tragen, er sackte in sich zusammen, krachte unsanft auf den eiskalten Betonboden des Schulhofes. «Tom! Oh mein Gott, Tom!» Lucia schrie panisch auf, ließ sich auf ihre Knie fallen und robbte an Tom heran.

Pluto rührte sich immer noch nicht, er sah nur mit aufgerissenen Augen zu den beiden Schülern, die jetzt vor ihm auf dem Boden lagen. Noch ehe er etwas sagen, geschweige denn tun konnte, ertönten Schüsse. Pluto erschrak, wollte sich ducken, doch zu spät. Ein plötzlicher Schmerz in seiner Schulter nahm ihm die Luft zum Atmen.

Mit einem Scheppern ging seine Pistole zu Boden, dann folgte er. Pluto sah den blauen Himmel über sich. Der Boden war so kalt, dachte er nur, so kalt. Seine Kräfte schwanden, er schloss die Augen. «Alles gut bei euch? Was ist mit deinem Freund? Hat der Mann auf ihn geschossen?» Lucia konnte auf die Fragen des Polizisten, der nun bei ihnen stand, gar nicht sofort antworten, so geschockt war sie von dem zuvor Geschehenen.

«Ich weiß nicht, nein, er hat nicht geschossen, glaub ich … ich weiß nicht.» Lucia hielt immer noch Toms Kopf, der auf ihrem Schoß lag. Was war da gerade passiert? Wer hatte geschossen? War der Mann tot? Was war mit Tom? Und was war mit den anderen unten im Keller?

«Hey, Junge wach auf, komm schon.» Der Polizist hatte sich zu ihnen gekniet und schlug vorsichtig geben Toms Wangen. «Hey, da biste ja wieder. Na, ein Glück. Geht’s dir gut, tut dir was weh?» Tom schüttelte langsam den Kopf. Er realisierte gar nicht, wer da vor ihm stand, wo er überhaupt war. «Seid ihr hier allein? Ist noch jemand da?», fragte der Polizist weiter.

«Nein, wir … wir sollten nachsitzen … und … die anderen … die anderen sind im Keller», stammelte Lucia. «Wer sind die anderen? Eure Mitschüler?» «Ja … aber auch die Terroristen! Sie sind da unten und wollten, dass Helena irgendwas hackt, und sie haben uns da unten festgehalten und sie haben Waffen und Walkie-Talkies und sie haben den Hausmeister umgebracht!» Die Worte sprudelten nur so aus Lucia raus. Als sie an den Hausmeister dachte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte.

«Ok, ganz ruhig, Verstärkung ist gleich da und auch ein Krankenwagen. Wir holen eure Mitschüler da raus!» «Was?» Francis wirkte zunehmend nervöser. «Dieser Code ist wirklich ziemlich lang.» Hans-Werner fasste Markus an die Schultern. «Ich kann mir kaum vorstellen, dass Zara dir diesen langen Code verraten hat – und du dann auch noch in der Lage warst, ihn dir zu merken.»

«Was wird das hier?» Francis trat Schweiß auf die Stirn. «Ach das, was da oben gerade so gekracht hat, war die Tür vom Nebeneingang, oder?» Markus wand sich zu Hans-Werner um. «Ja, aber vergiss es. Da schafft ihr es nicht raus.» «Das müssen wir gar nicht.» Markus erhob sich und ließ den Laptop achtlos stehen. «Weißt du, warum dieser Code so lang ist?

Der ist so lang, weil es einen Moment dauert, bis nach dem Öffnen der Seitentür die Polizei hier auftaucht.» Während Hans-Werner, Shannon und Francis einander wortlos ansahen, sagte Zara: «Und so etwas wie ein Code, der sich selbst deaktiviert, ist kompletter Blödsinn. Welchen Zweck sollte der haben?»

Während die Terroristen reglos zu verstehen versuchten, was hier gerade geschah, trat Zara an den Laptop und griff ihn sich. «Außerdem: Was immer ihr mit diesem Gerät auch hochjagen könntet – das blöde Ding muss dafür überhaupt erstmal funktionieren!» Damit warf sie den Laptop auf den harten Steinfußboden, trat noch einmal darauf, und schon war das Gerät in seine Einzelteile zersprungen. Während die Teenager einander zufrieden zulächelten, hob Francis die Waffe. Doch da hörten sie auch schon die Rufe von oben: «Polizei! Wir kommen jetzt rein!»

Endlich war es vorbei. Die Beamten setzten die Terroristen nacheinander in Handschellen in die Streifenwagen, während die Notfallsanitäter die Leiche des Hausmeisters auf einer Bahre zum Rettungswagen trugen. Die Sonne ging bereits unter und die silbernen und goldenen Wärmedecken um die Schüler schimmerten in der Dämmerung.

Die vielen Blaulichter der Polizeiautos und Krankenwagen tauchten die ganze Szenerie in ein bläuliches Licht. Die Schüler saßen auf der breiten Treppe zum Haupteingang. Nach der Erstuntersuchung wurden sie von PoIizisten befragt und erzählten ihnen den ganzen Ablauf des Geschehens von Anfang an:

dem Nachsitzen, dem Hausmeister, dem Überfall, sämtlichen Schüsse, dem Stromausfall und sonst von allem anderen. Anwohner wurden auf die Versammlung der Rettungswagen und Polizei aufmerksam und suchten bei den Beamten ein Gespräch. Hans-Werner wurde nun nach oben gebracht.

Mit Handschellen am Rücken wurde er durch das Foyer und schließlich auf den Schulhof geführt. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Die letzten Treppenstufen hatte er hinter sich gebracht und erst jetzt erblickte er, durch das Gewimmel hindurch, seinen Freund Pluto. Er lag in einem der vielen  Rettungswagen und hatte genauso wie er Handschellen um.

Pluto war jedoch an seine Liege gekettet. «Pluto! Pluto, mein Freund, was ist passiert?» Hans-Werner eilte samt Polizist hinter ihm zu seinem Freund. «Hey hey, nicht so schnell! Sie bleiben schön hier.» Kleinlaut antwortete Hans-Werner dem Polizisten, der ihn gerade zum Auto brachte. «Ja, tut mir leid, kann ich bitte kurz zu meinem Freund?»

Der Polizist zeigte sich gnädig. «Pluto, geht’s dir gut?» Besorgt trat Hans-Werner an seinen alten Freund heran. «Kommt er durch?» Hans-Werner sah das ganze Blut und Plutos bleiches Gesicht. «Vermutlich wird er es schaffen, ja», antwortete der Notarzt mürrisch. «Du weißt doch Hansi, mich haut so schnell nichts um! Und wenn doch, dann bin ich endlich wieder mit meiner Frau und meinem Kleinen vereint. Ach, Hansi mach doch nicht so ein Gesicht!

Wenn ich das hier wirklich nicht schaffe, dann grüße ich deine Hühner von dir, versprochen. Aber du hast den netten Arzt hier ja gehört, so schnell bist du mich noch nicht los. Halt mir lieber ein Bett in deiner Zelle frei, kapiert?» Hans-Werner schniefte und nickte anschließend. Dann wurde er ins Polizeiauto gesetzt.

Francis und Shannon wurden als letztes aus dem Schulhaus geführt. Mürrisch starrten sie zu Boden. Als sie an den Schülern vorbeikamen, trat Zara an Francis heran und bat den Polizisten, kurz zu warten. «Was denn noch?» Francis wirkte nicht einmal mehr wütend, sie schien einfach nur am Ende ihrer Kräfte. «Bist du stolz darauf, dass ihr das Leben von gewissenlosen Schweinen gerettet habt, die unsere Familien ermordet haben?»

«Ja, das bin ich.» Zara klang nicht triumphal, viel eher schien sie besorgt zu sein. «Weil man Blut nicht mit Blut rächt. Aber ich verspreche euch etwas.» «Ach ja, was denn?» Francis sah müde aus, und wo zuvor noch Eifer in ihrem Blick gelegen hatte, war jetzt nur noch trübe Leere. «Jeder von diesen Leuten, die euch das alles angetan haben, hat irgendeine Leiche im Keller. Oder sagen wir lieber: Auf seinem Rechner.»

Schlagartig schien etwas in Francis’ Blick aufzuleuchten. «Du meinst …?» «Wenn die so gewissenlos sind, wie du sagst und mit einer Explosion ein ganzes Dorf ausradieren wollten für irgendein millionenschweres Bauvorhaben UND es dann noch als Unfall vor der Welt tarnten, dann werde ich etwas finden. Bei jedem von denen! So werden wir eure Familien, deine Töchter …,» Zara sah, wie Francis Miene sich verdunkelte.

Sie richtete ihren fragenden Blick direkt auf Zara. «Lucia hat mir von deinem Verlust erzählt. Auf jeden Fall werde ich auf meine Weise eure Familien rächen. Schließlich bin ich BitBiter. Ich verspreche dir, falls diese Leute wirklich Schuld tragen, dann werde ich sie dranbekommen.» Francis lächelte zufrieden und warf dem Mädchen einen Blick zu, in dem Versöhnung zu liegen schien. Dann führte der Beamte sie zum Streifenwagen. «Denkst du, du findest was auf den Rechnern dieser Leute, das sie hinter Gitter bringt?»

Amy hatte das Gespräch mit angehört. «Wenn es etwas gibt, dann finde ich es auch. Und es gibt immer irgendwas.» Die Mädchen lächelten einander zu. Da erklang ein Maunzen, ganz leise. Und schon spürte Amy, wie sich etwas an ihr linkes Bein schmiegte. «Da bist du ja, Flora.» Sie sah die Katze des Hausmeisters, dessen Leiche weiter vorn in den Notarztwagen geladen wurde. Dann beugte sie sich zu dem Tier hinunter und hob es auf den Arm. «Was hältst du davon, wenn du ab heute bei mir wohnst?» Und während sich Flora zufrieden schnurrend an Amys geschienten Arm schmiegte, sah diese noch einmal in die Runde ihrer Freunde.

Ein Blick, keine Worte, von niemandem. Mehr brauchte es nicht. Denn sie alle wussten, dass sie von heute an nicht mehr einfach nur Schulkameraden waren.

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